ChatGPT: Verlernen wir das Denken?

Interview mit dem Wissenschaftsjournalisten Ingo Leipner
75 % der SchülerInnen und über 90 % der Studierenden nutzen ChatGPT zum Recherchieren und Lösen von Aufgaben. ChatGPT gibt sekundenschnelle Antworten, liefert Lösungen und Artikel. Das ist eine Revolution, welche Folgen hat sie? Die Bildschirmzeiten v.a. am Smartphone und Tablet erhöhen sich dadurch nochmals, mit bekannten Folgen wie u.a. Strahlenbelastung, Adipositas, Kurzsichtigkeit, soziale Isolierung. Was bedeutet das für die Intelligenz? Eine Untersuchung des Massachusetts Institute of Technology (MIT) lässt den Schluss zu, dass der Einsatz von KI-Assistenten wie ChatGPT beim Verfassen von Texten zu einer „kognitiven Schuld“ führen kann. Damit wird ein Zustand beschrieben, bei dem die an eine KI ausgelagerte „Denkarbeit“ die eigene Lernfähigkeit und kritische Auseinandersetzung mit einem Thema beeinträchtigt. Der Autor Ingo Leipner erklärt, wie wissenschaftliche Ergebnisse vom „Massachusetts Institut for Technology“ (MIT) wesentliche Aussagen stützen, die er in seinem Buch getroffen hat: „KI-Angriff auf das Bewusstsein“.
Titelbild: Verlag Info3

Herr Leipner, was ist Ihnen besonders ins Auge gefallen, als Sie diese KI-Studie aus den USA gelesen haben?

Zunächst natürlich die erstklassige Quelle. Die Wissenschaftler hatten ihr Experiment am „Massachusetts Institut for Technology“ (MIT) durchgeführt, einer weltweit renommierten Forschungseinrichtung in den USA (1). Die Ergebnisse sind in meinen Augen so aufregend, weil die MIT-Experten mit harter Naturwissenschaft Thesen bestätigen, die ich in meinem Buch „KI-Angriff auf das Bewusstsein“ entfaltet habe – als ein essayistisches Gedankenexperiment. So etwas ist dringend nötig, weil KI unsere Gesellschaft umpflügt – und eine „Kritik der künstlichen Vernunft“ schon heute sprachfähig sein muss, trotz aller Unvollkommenheit und fehlender Daten. Dabei ist aber die MIT-Studie ein guter Anfang.

Was wurde untersucht?

Die Wissenschaftler teilten die Teilnehmer in drei Gruppen ein: Die erste nannten Sie „Gruppe Sprachmodell“, weil sie eine Technologie wie ChatGPT nutzen durften. Die zweite Gruppe bekam die Bezeichnung „Suchmaschine“. Sie konnte konventionell im Internet auf die Suche gehen, hatte aber keinerlei Zugang zu Sprachmodellen. Den Teilnehmern der dritten Gruppe gaben die Wissenschaftler die Bezeichnung „Nur Gehirn“, weil sie weder auf ein Sprachmodell noch auf eine konventionelle Suchmaschine zugreifen konnten. Alle drei Gruppen hatten dieselbe Aufgabe: das Schreiben eines Essays. Dazu kamen sie dreimal mit zeitlichem Abstand zusammen, immer unter denselben Bedingungen.

____________________________________________________________________________

Ingo Leipner, Bild:privat

Ingo Leipner, Dipl.-Volksw. und Wirtschaftsjournalist

Autor kritischer Bücher zur Digitalisierung der Gesellschaft: „Die Lüge der digitalen Bildung“ (mit G. Lembke, 2015); „Heute mal bildschirmfrei“ (mit P. Bleckmann, 2018); „Die Katastrophe der digitalen Bildung“ (2020). Eines seiner Bücher beschäftigt sich mit Manipulationstechniken in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik („Moderne Rattenfänger“, 2021). 2024 erschien das Buch „Mensch. Mensch. Mensch.“ (mit T. Fischer). Zur selben Zeit kam ein weiteres Buch auf den Markt: „KI-Angriff auf das Bewusstsein. Kritik der künstlichen Vernunft“ (info3). Leipner arbeitet auch als Berater für einen Landtagsabgeordneten in Stuttgart. Er schreibt als Wirtschaftsjournalist Texte zu den Themen Erneuerbare Energie und Unternehmenskultur. Neben Lehraufträgen an der Dualen Hochschule Mannheim ist er als Dozent für journalistisches Schreiben tätig und hält Vorträge zu den Themen seiner Bücher.

Ingo Leipner: KI-Angriff auf das Bewusstsein. Kritik der künstlichen Vernunft, INFO3 Verlag, 2024, 97 Seiten, 12,90 Euro

___________________________________________________________________________________________

Es gab aber noch eine vierte Veranstaltung?

Ja, da haben sie sich am MIT etwas Besonderes einfallen lassen: Wer zuerst in der Gruppe „Sprachmodell“ gewesen ist, musste jetzt bei einem Essay völlig auf digitale Hilfe verzichten. Wer aber am Anfang ohne Sprachmodell und Suchmaschine zu arbeiten hatte, erhielt jetzt die Möglichkeit, diese digitalen Tools zu nutzen. 54 Probanden waren bei den ersten drei Sessions dabei, zur vierten kamen aus diesem Kreis noch 18 Teilnehmer. Bei diesem Rollentausch erwiesen sich die ehemaligen Nutzer des Sprachmodells als weniger leistungsfähig – im Vergleich zur ehemaligen Gruppe „Nur Gehirn“.

Was ist für Sie das erstaunlichste Resultat? Wo sehen Sie die Parallelen zwischen Ihrem Buch und den MIT-Resultaten?

Sprachmodelle wir ChatGPT liefern uns fertige Ergebnisse, die zwar zu verbessern sind, uns aber in die Rolle eines Pseudo-Lektors versetzen. Denn: Kaum ein Gedanke entspringt mehr unserem eigenen Denken. Auf diese Weise dominieren Resultate, und der eigentliche Prozess bleibt unsichtbar hinter der KI-Fassade. Vor allem ist es nicht unser eigener Prozess; der „Promptologe“ agiert nicht aktiv: Eine Entfremdung von der eigentlichen Arbeit setzt ein, wodurch der wichtige emotionale Prozess austrocknet. Die intrinsische Motivation droht langfristig auf der Strecke zu bleiben. Sprachmodelle könnten kognitive Funktionen reduzieren und damit Trainingseffekte der Neuroplastizität verhindern. Soweit meine Überlegungen, die das MIT jetzt bestätigt.

Welche Schlussfolgerungen haben Sie daraus gezogen?

In meinem Buch gehe ich stark auf das Konzept der Neuroplastizität ein: Die neuronalen Verbindungen unterliegen im Gehirn einem ständigen Wandel, sie können an Leistungsfähigkeit einbüßen oder gewinnen. Wer viel kognitiv arbeitet, stärkt die Nervenbahnen – und umgekehrt. So sind geistige Anstrengungen unabdingbar – genauso wie das Training der Sportler, um Muskulatur aufzubauen. Im Englischen gibt es dazu eine passende Redensart: „Use it or lose it“ – Nutze Deine Muskeln, oder Du verlierst sie. Das gilt auch für unser Gehirn!

Bücher von Ingo LeipnerTitelbilder: Verlage

Wie fügt sich das amerikanische Experiment ins Bild?

Mit ihren EEG-Messungen fanden die MIT-Wissenschaftler eindeutige Belege, dass die neuronalen Verknüpfungen im Gehirn desto stärker abnahmen, je mehr es zu einer „externen Unterstützung“ beim Schreiben gekommen ist. Die Gruppe „Nur Gehirn” wies die stärksten Netzwerke auf, die eine weite Reichweite hatten. Die Gruppe „Suchmaschine” zeigte eine mittlere Beteiligung der Nervenzellen, und die Gruppe „Sprachmodell“ wies die schwächste Kopplung der neuronalen Netze auf. Ganz klar: Wer seine „grauen Zellen“ nicht mehr stark fordert, fällt beim EEG sofort auf. Etwa, wenn es schnelle Technik möglich macht, bequem und einfach Sprachmodelle nach Worten suchen zu lassen. Das schwächt die Neuroplastizität.

Also gilt fürs Gehirn auch der Satz „Use or lose it“, oder?

Genau darauf weisen die Ergebnisse der MIT-Wissenschaftler hin. Es kommt zu einem Umbau im Gehirn: Das Sprachmodell wirkt sich nicht nur auf die Bewältigung der Aufgabe aus, sondern führt zu einer neuen „kognitiven Architektur“, wie das MIT schreibt. Die Gruppe „Nur Gehirn“ nutzte „breite, verteilte neuronale Netzwerke“, um intern ihre Inhalte zu erstellen. Die Gruppe „Suchmaschine“ stützte sich auf besondere Strategien, um visuelle Informationen zu verarbeiten. Eine anspruchsvolle Tätigkeit, die wir alle kennen, wenn wir aus Listen mit unzähligen Treffern die richtigen Links herausfiltern wollen. Dagegen hatte die Gruppe „Sprachmodell“ nur die Aufgabe, KI-generierte Vorschläge zu verarbeiten und in bestehende Strukturen zu integrieren. Diese Unterschiede werfen gewaltige Fragen für die pädagogische Praxis auf!

Das Gedächtnis hat auch in der Gruppe „Sprachmodell“ gelitten?

Sehr deutlich, wie die Wissenschaftler feststellen: In der Gruppe „Sprachmodell“ erlebten sie, dass 83 Prozent der Teilnehmer in der ersten Runde große Schwierigkeiten hatten, nach dem Essay korrekt aus ihrem Text zu zitieren. Die anderen zwei Gruppen waren da viel stärker unterwegs. Ebenfalls spannend war die Frage, wie sehr sich die Probanden mit der eigenen Arbeit identifizieren. Ich vermute in meinem Buch: Je weniger wir selbst Gedanken fassen und bewusst formulieren, desto geringer wird unsere innere Beteiligung am Schreiben. Das kann nur auf Kosten der eigenen Motivation gehen.

Und die MIT-Wissenschaftler?

Die Gruppe „Nur Gehirn“ betrachtete fast einstimmig ihre Essays als eigene Arbeit. Dagegen zeigte die Gruppe „Sprachmodell“ ein „fragmentarisches und widersprüchliches Gefühl der Urheberschaft“, wie es die Wissenschaftler ausdrücken. Einige Probanden beanspruchten die Essays als „volles geistiges Eigentum“, andere wiesen das völlig zurück, und manche kamen zu der Einschätzung, wenigstens einen Teil der Ergebnisse wäre ihr eigener Verdienst. Fatal! Denn die MIT-Wissenschaftler äußern den Verdacht: Ein „vermindertes Gefühl der kognitiven Handlungsfähigkeit“ könnte die Folge sein, wenn Sprachmodelle zum Einsatz kommen.

ChatGPT / diagnose:funk

Die Gretchenfrage: Was heißt das für die pädagogische Praxis?

Wir sind ganz am Anfang der Forschung: Heute geht es darum, Lehrende überhaupt für dieses Thema zu sensibilisieren, weil die Marketing-Maschine der Industrie suggeriert, KI in der Schule würde Schülern und Lehrern neu Freiräume schaffen. In meinen Augen geschieht das Gegenteil, wie bei allen Versprechungen der digitalen Bildung. Gerade in KI-Zeiten heißt es weiter für mich: „Eine Kindheit ohne Computer ist der beste Start ins digitale Zeitalter“, wie ich es schon 2015 im Buch „Die Lüge der digitalen Bildung“ formuliert habe.

ChatGPT an Schulen und Unis verbieten?

Das dürfte ein aussichtsloses Unterfangen sein, da schriftliche Arbeiten oft außerhalb der Schule und Universität geschrieben werden. Das ginge nur, wenn Smartphones und Tablets als Arbeitsgeräte verboten werden. Rückkehr zu Gänsekiel und Papier? Das wird kein Mensch verlangen wollen, zumal die Möglichkeiten der Recherche im Internet gewaltig sind. Bleiben Versuche der KI-Regulierung, wie es manche Hochschule macht: Die Studierenden werden bei ihren Arbeiten mit Restriktionen ohne Ende bombardiert. Zum Beispiel sollen sie genau die Stellen im Text markieren, bei denen eine KI zum Einsatz kam. Das erhöht den Aufwand so sehr, dass es besser sein könnte, auf die KI zu verzichten. Eine absurde Abschreckungsstrategie, weil gleichzeitig alle Hochschulen an der Spitze der Digitalisierung marschieren wollen.

Nächste Idee: Prüfungsformate komplett umstellen. Das Schreiben wissenschaftlicher Texte wird in Live-Klausuren abgeprüft. Wie beim Abi-Aufsatz schreiben die Prüflinge etwa mit Kugelschreiber auf Papier. Null Digitalität, null KI. Ob das ein Weg ist? Korrektes Zitieren lässt sich da nicht zeigen, zumal eine 60-seitige Arbeit mit wissenschaftlichem Anspruch ihre Zeit braucht … Was auch gefordert wird: verstärkt mündliche Prüfungen durchführen! Haben wir aber dafür genug Lehrende?

Gibt es angesichts dieser Dilemmata noch Möglichkeiten, wie Schüler und Studierende lernen, selbst kreative, wissenschaftliche Arbeiten zu verfassen?

Es ist zu befürchten, dass die KI-Nutzung beim Schreiben selbstverständlich wird. Das stellt einen Paradigmen-Wechsel dar, der ja nicht nur das Bildungssystem erfasst. Erst wenn die „kognitive Schuld“ so groß wird, dass der kommerzielle Erfolg in Frage steht, wäre ein Umdenken möglich – doch vielleicht haben wir uns dann bereits an die flachen kognitiven Prozesse gewöhnt und freuen uns über jeden KI-Text, der „Autoren“ bequem vom Nachdenken befreit. Was für eine fragwürdige Freiheit!

Die Fragen stellte Peter Hensinger, diagnose:funk

Weitere Bücher von Ingo Leipner und Vortrag in der diagnose:funk Webinar-Reihe

Bücher von bzw. mit Beiträgen Ingo LeipnerTitelbilder: Verlage

(1) Die MIT-Studie

Nataliya Kosmyna, Eugene Hauptmann, Ye Tong Yuan, Jessica Situ, Xian-Hao Liao, Ashly Vivian Beresnitzky, Iris Braunstein, Pattie Maes (2025): 

Ihr Gehirn auf ChatGPT: Anhäufung von kognitiven Schulden bei der Verwendung eines KI-Assistenten für Aufsatzschreibaufgaben

Original: Your Brain on ChatGPT: Accumulation of Cognitive Debt when Using an AI Assistant for Essay Writing Task

Link: https://arxiv.org/abs/2506.08872

Zusammenfassung

Diese Studie untersucht die neuronalen und verhaltensbezogenen Konsequenzen des LLM-unterstützten Aufsatzschreibens. Die Teilnehmer wurden in drei Gruppen eingeteilt: LLM, Suchmaschine und nur das Gehirn (keine Hilfsmittel). Jede Gruppe absolvierte drei Sitzungen unter den gleichen Bedingungen. In einer vierten Sitzung wurden die LLM-Nutzer der Nur-Gehirn-Gruppe (LLM-to-Brain) und die Nur-Gehirn-Nutzer der LLM-Bedingung (Brain-to-LLM) zugewiesen. Insgesamt 54 Teilnehmer nahmen an den Sitzungen 1-3 teil, wobei 18 die Sitzung 4 abschlossen. Wir setzten Elektroenzephalographie (EEG) ein, um die kognitive Belastung während des Aufsatzschreibens zu messen, und analysierten die Aufsätze mithilfe von NLP und bewerteten die Aufsätze mit Hilfe von menschlichen Lehrern und einem KI-Richter. Über die Gruppen hinweg zeigten NERs, n-Gramm-Muster und die Themenontologie Homogenität innerhalb der Gruppe. Das EEG zeigte signifikante Unterschiede in der Konnektivität des Gehirns:

Die kognitive Aktivität verringerte sich im Verhältnis zur Verwendung externer Werkzeuge. In Sitzung 4 zeigten LLM-zu-Gehirn-Teilnehmer eine reduzierte Alpha- und Beta-Konnektivität, was auf ein zu geringes Engagement hindeutet. Brain-to-LLM-Nutzer wiesen eine höhere Erinnerungsleistung und eine Aktivierung der okzipito-parietalen und präfrontalen Areale auf, ähnlich wie die Nutzer von Suchmaschinen. Der selbstberichtete Besitz von Aufsätzen war in der LLM-Gruppe am niedrigsten und in der reinen Brain-Gruppe am höchsten. LLM-Nutzer hatten auch Schwierigkeiten, ihre eigene Arbeit genau zu zitieren. Während LLMs sofortige Bequemlichkeit bieten, weisen unsere Ergebnisse auf mögliche kognitive Kosten hin. Über einen Zeitraum von vier Monaten zeigten die LLM-Benutzer durchweg schlechtere Leistungen auf neuronaler, sprachlicher und verhaltensbezogener Ebene. Diese Ergebnisse geben Anlass zur Besorgnis über die langfristigen pädagogischen Auswirkungen der LLM-Nutzung und unterstreichen die Notwendigkeit, die Rolle der KI beim Lernen genauer zu untersuchen.

Artikel veröffentlicht:
04.07.2025
Autor:
diagnose:funk / Peter Hensinger
Ja, ich möchte etwas spenden!