Gebt den Kindern ihre Kindheit wieder!

Augsburger Schulpädagogikprofessor Klaus Zierer unterstützt eine gesetzliche Altersbegrenzung für soziale Medien
Augsburg, den 20.06.2025. Der Schulpädagogikprofessor der Universität Augsburg, Klaus Zierer, unterstützt den Vorstoß der Bundesbildungsministerin Karin Prien, eine gesetzliche Altersbegrenzung für soziale Medien einzuführen. Forschungen aus über zehn Jahren belegen, dass die negativen Effekte auf die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen groß sind und daher die ältere Generation Verantwortung übernehmen muss.
Prof. K. ZiererBild:privat

„Endlich führen wir auch in Deutschland eine Debatte über die Altersbegrenzung von sozialen Medien“, so kommentiert der Universitätsprofessor den Vorstoß der Bundesbildungsministerin, Karin Prien. Diese forderte unlängst, eine gesetzliche Altersbegrenzung für soziale Medien einzuführen, um die junge Generation vor gesundheitlichen Gefahren zu schützen. Bereits in mehreren Ländern der Welt, wie Australien und Albanien, gibt es entsprechende Altersbegrenzungen und in weiteren Ländern, wie zum Beispiel Griechenland, Frankreich, Spanien, Belgien und Dänemark, wächst der Druck, solche Regelungen einzuführen.

Ministerin Karin PrienBild: Bundesregierung, Jesco Denzel

Forschungslage unterstützt Position der neuen Bildungsministerin

Nach Auffassung von Klaus Zierer unterstützt eine umfangreiche Forschungslage die Position der CDU-Politikerin:

  • „Mittlerweile ist die Datenlage angesichts mehrerer hundert Studien eindeutig: Ein übermäßiger und zu früher Konsum von sozialen Medien gefährdet in einem umfassenden Sinn die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen.“

So gibt es zahlreiche Hinweise darauf, dass die Zeit, die Kinder mit sozialen Medien verbringen, die schulischen Lernleistungen reduzieren, allen voran Lesen, Rechnen und kritisches Denken, psychosomatische Erkrankungen, wie Depressionen, begünstigen und sogar zu mehr Bildungsungerechtigkeit führen, weil Kinder aus bildungsfernen Milieus in der Regel soziale Medien unsinniger nutzen als Kinder aus bildungsnahen Milieus. „Selbst die Hoffnung“, so ergänzt der Schulpädagoge, „dass soziale Medien zu mehr politischer Teilhabe führen, ist aus empirischer Sicht widerlegt.“ Klaus Zierer beruft sich dabei auf die Hattie-Studie „Visible Learning“, die den größten Datensatz der empirischen Bildungsforschung umfasst und daher auch mehrere hundert Studien zum Einfluss von sozialen Medien auf Bildungsprozesse auswertet.

Grafiken: diagnose:funk

Minister Söder ist aus der Zeit gefallen

Vor diesem Hintergrund hat der Erziehungswissenschaftler wenig Verständnis für die Kritik an der Bundesbildungsministerin, wie sie beispielsweise der bayerische Ministerpräsident Markus Söder formulierte: altbacken, altmodisch und aus der Zeit gefallen sei der Vorstoß. Demgegenüber argumentiert Klaus Zierer:

  • „Wer heute die Gefahren eines unreflektierten Umganges mit sozialen Medien noch nicht erkannt hat, ist im Gestern hängengeblieben und mehr als naiv.“

Geradezu fortschrittlich sei es aus seiner Sicht, aktuelle Forschungen aufzugreifen und einen bildungspolitischen Kurswechsel einzuleiten, wenn empirische Fakten dies erfordern.

Im Anschluss an Jonathan Haidt, der im letzten Jahr mit „Generation Angst“ einen weltweiten Bestsellererfolg erzielte, macht der Schulpädagoge darauf aufmerksam:

  • „Seit Jahren hat sich die Kindheit immer mehr zu einer bildschirmbasierten Kindheit entwickelt. Die Defizite sind hinlänglich bekannt. Es ist höchste Zeit, den Kindern wieder eine spielbasierte Kindheit zu ermöglichen und damit das Recht des Kindes auf ein analoges Leben ernst zu nehmen.“

Befragungen, wie beispielsweise die Postbank Digitalstudie 2024, kommen zu dem Ergebnis, dass 16-Jährige am Tag bis zu 10 Stunden online sind und dabei um die 100 TikTok-Videos schauen.

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Lesch / Zierer: Gute Bildung

Interview mit Prof. K. Zierer in der Tagespost (28.06.2025):

"Müsste man dann nicht wenigstens differenzieren – zwischen YouTube-Videos mit Lerninhalten und TikTok-Clips?
Eigentlich schon, aber das wird immer schwieriger. Denn auch Plattformen wie YouTube oder Instagram bieten inzwischen sogenannte Shorts an, also Kurzvideos, die in endlosen Schleifen abgespielt werden. Diese Formate sind darauf ausgelegt, die Nutzer möglichst lange zu binden. Für Kinder ist das besonders problematisch, weil ihnen die Fähigkeit zur Selbstregulation noch fehlt. Der präfrontale Cortex, der für Impulskontrolle und kritisches Denken zuständig ist, ist bei Kindern und Jugendlichen noch nicht ausgereift (s. dazu Video unten). Sie können sich selbst schlicht nicht bremsen. Und ehrlich gesagt: Auch viele Erwachsene tun sich damit schwer."

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Kritik an Position der Lehrerverbände

Auch die Argumentation, wie sie beispielsweise Lehrerverbände im Allgemeinen und der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes im Besonderen ins Feld führen, wonach ein Verbot unsinnig sei, weist er zurück. So wird aus diesem Lager angemerkt, dass weder eine Umsetzung gelingen kann, weil es zu viele Schlupflöcher gebe, noch Kinder so Medienmündigkeit erreichen können, wenn sie nicht die Gelegenheit bekämen, ihr Verhalten zu trainieren. Beide Argumente sind aus Sicht des Schulpädagogen nicht schlüssig:

  • „Erstens ist anzuerkennen“, so führt Klaus Zierer aus, „dass die Fähigkeit der Selbststeuerung und der Selbstkontrolle im Umgang mit sozialen Medien alters-, entwicklungs- und kompetenzabhängig ist.“

Er verweist dabei auf die Entwicklung des präfrontalen Kortex, der entscheidend für die Impulssteuerung ist, wenn beispielsweise Nachrichten hereinkommen (s. dazu Video unten). Diese Entwicklung dauere mindestens bis zum 16. Lebensjahr, im Schnitt sogar bis zum 25. Lebensjahr. Wer also fordere, Kinder sollen in jungen Jahren durch Versuch und Irrtum Medienmündigkeit aufbauen und die derzeitige Lebenswelt als unveränderbar sieht, der verkennt die Möglichkeiten der Jugend:

  • „Der junge Mensch kann den Umgang mit sozialen Medien selbst nicht verantwortungsvoll steuern“, so das Resümee des Schulpädagogen.
Leistungsabfall an Schulen: Anteil der Digitalisierung daran wissenschaftlich nachgewiesenGrafik:diagnose:funk

Verbote brauchen Begleitung 

Zum Argument, dass Verbote schwierig umzusetzen seien und deswegen gleich gar nicht eingeführt werden bräuchten, verweist Klaus Zierer auf die Notwendigkeit von Regeln in der Erziehung. „Zweitens basiert Erziehung immer auf Regeln. Ohne Verbote keine Erziehung, wie wir spätestens seit Immanuel Kant wissen“, bemerkt der Universitätsprofessor und er ergänzt:

  • „Das Problem ist nicht, dass Verbote hintergangen werden können, sondern vielmehr die Unfähigkeit der älteren Generation Verbote so einzuführen, dass sie erstens auf Verständnis stoßen, transparent und klar sind und zweitens Konsequenz und Verantwortung bei der Einhaltung erfordern.“

So müsse ein Altersbegrenzung von sozialen Medien neben Überlegungen bei Verstößen immer von pädagogischen Maßnahmen begleitet werden, die zu Reflexion anregen und das Verständnis wecken, dass diese Maßnahmen wichtig sind. Medienerziehung ist also wichtiger, denn je und muss immer als Flankierung von Verboten gesehen werden.

Jugendliche wollen Hilfestellung

Dass Jugendliche selbst sogar eine Regulierung von sozialen Medien wollen, wie die Jugendtrendstudie des Instituts für Generationenforschung vor wenigen Tagen zeigte, scheinen nach Auffassung von Klaus Zierer viele Kritiker an der Bundesbildungsministerin zu vergessen. „Wenn knapp 50 Prozent der Jugendlichen fordern, eine unbeschränkte Nutzung von sozialen Medien erst ab 16 Jahren zu erlauben, dann ist dies ein wichtiges Zeichen und ein Aufruf der Partizipation“, so folgert der Schulpädagoge.

Aus Sicht des Augsburger Ordinarius für Schulpädagogik besteht folglich kein Zweifel, dass eine gesetzliche Altersbegrenzung sinnvoll ist und eine entsprechende Debatte zu führen ist. Der Schulpädagoge hat in den letzten Jahren immer wieder zu Themen der Digitalisierung Stellung genommen und Beiträge in führenden Tageszeitungen zur Wirksamkeit von digitalen Medien, zum Umgang mit KI und zuletzt zur Notwendigkeit eines Smartphone-Verbotes an Schulen veröffentlicht.

Screenshot ZDF / Lanz

In der Talkshow von Markus Lanz diskutierten Bildungsministerin Karin Prien, Grundschullehrerin Katja Giesler und der Psychologe Ahmad Mansour realitätsbezogen und ungeschminkt über die Bildungskatastrophe: https://www.zdf.de/video/talk/markus-lanz-114/markus-lanz-vom-26-juni-2025-100 

Publikation zum Thema

Format: DIN B5Seitenanzahl: 156 Veröffentlicht am: 20.05.2025 Bestellnr.: 111, Preis 16,90ISBN-10: 978-3-9820585-5-9Sprache: DeutschHerausgeber: diagnose:media

Gesund aufwachsen in der digitalen Medienwelt

Orientierungshilfe für Eltern und alle, die Kinder und Jugendliche begleiten.
Autor:
Hrsg. Michaela Glöckler
Inhalt:
Viele Beobachtungen und Studien von Experten zeigen, dass der zu frühe Kontakt von Kindern und Jugendlichen mit den neuen Medien mit erheblichen Risiken für ihre Entwicklung und ihre Gesundheit verbunden ist. Wir wissen heute: Erst wenn das Kind seine biologisch notwendigen Entwicklungsschritte in den verschiedenen Lebensabschnitten gut bewältigt hat, kann es die Fähigkeit zu einem kompetenten und selbstbestimmten Medienumgang entwickeln. Das Buch nimmt die übergeordnete Fragestellung auf, was Kinder bzw. Jugendliche für ihre gesunde Entwicklung in verschiedenen Entwicklungsphasen brauchen. Der pädagogische Standpunkt der Autoren versucht eine Balance aufzuzeigen zwischen den Wünschen der Kinder und Jugendlichen und den Einschränkungen, die als Vorsorgemaßnahmen zur Abwendung von Gefahren erforderlich sind.
diagnose:funk
Stand: 08.10.2024Format: DIN A4Seitenanzahl: 37 Veröffentlicht am: 29.08.2024 Sprache: deutschHerausgeber: diagnose:funk

Überblick Nr. 7: Kinder und digitale Medien – Eine pädagogische Herausforderung!


Autor:
diagnose:funk
Inhalt:
Überblick Nr. 7 dokumentiert, warum eine zu frühe und unregulierte Nutzung des Smartphones und anderer digitaler Medien zu negativen Auswirkungen führen kann. Schwerpunktmäßig werden Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie und Neurobiologie behandelt. Es werden Lösungsmöglichkeiten für Eltern, Erziehende und die Politik aufgezeigt, um Kinder und Jugendliche vor einer Smartphonesucht zu bewahren.
Artikel veröffentlicht:
02.07.2025
Autor:
Pressemitteilung Lehrstuhl für Schulpädagogik Universität Augsburg
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