Aktuelle Rechtsmeinung: Vom Recht zur Pflicht
Die 2022 erschienene Doktorarbeit von Anja Brückner (Titel: „Kommunale Mobilfunkkonzepte im Spannungsfeld zwischen Vorsorge und Versorgung“) verdeutlicht, dass Kommunen nicht nur das Recht, sondern auch die grundgesetzliche Pflicht haben, ihre Einwohner vor den potenziellen Gesundheitsrisiken der Mobilfunkstrahlung zu schützen. Die Hauptbegründungen von Brückner sind:
1. Die Grenzwerte berücksichtigen nicht den Stand der Forschung und schützen deshalb nicht
Das Hauptargument, der Aufbau von Sendeanlagen sei wegen schützender Grenzwerte unbedenklich, weist Brückner auf Grund der Forschungslage zurück:
- „Es häufen sich mittlerweile Forschungsergebnisse, die eine Schädlichkeit von biologischen Kraftwirkungen durch Mobilfunkstrahlung beweisen.“ (S. 66)
- „Der Staat kommt seiner Vorsorgepflicht daher nur hinsichtlich thermischer Effekte nach. Da athermische Wirkungen trotz aktueller Forschungsergebnisse und vorsorgerelevanten Risikoniveaus nicht in die (Neu)Berechnung der Grenzwerte der 26. BImSchV eingeflossen sind, sind diese Grenzwerte – bezogen auf Mobilfunkstrahlung in ihrer Gesamtheit – derzeit ungeeignet, Vorsorge zu bewirken und daher untragbar.“ (S. 50)
2. Solange die Bundesregierung ihrer Schutzpflicht nicht nachkommt, können und müssen die Kommunen das tun
In ihrer Dissertation, die einem Gutachten gleichkommt, schreibt Brückner:
- Da durch die fortschreitende Digitalisierung „eine unüberschaubare Anzahl an Menschen elektromagnetischer Strahlung ausgesetzt ist, macht die Erforderlichkeit einer schutzkonformen Auslegung des § 22 BImSchG im Sinne einer generellen vorsorgepflichtigen Norm noch deutlicher … Eine generelle Vorsorgepflicht … sowohl hinsichtlich thermischer als auch athermischer Effekte der Mobilfunkstrahlung – für Gemeinden im Rahmen der Bauleitplanung – ist somit verhältnismäßig und notwendig.“ (S.66)
- Die Gemeinde habe deshalb „gerade hinsichtlich junger Menschen aufgrund potenziell erhöhter Elektrosensibilität und Schutzbedürftigkeit einen verfassungsrechtlichen Schutzauftrag“ (S. 132), der u.a. „empfindliche Orte“, „sensible Einrichtungen“ und „Wohneinrichtungen“ (S. 133) betreffe.
Die Pflicht für ein Mobilfunkvorsorgekonzept ergibt sich also aus der unzureichenden Vorsorge der Bundesregierung, die athermische Effekte in ihrer Risikobewertung weitgehend ignoriert. Athermische Effekte sind biologische Effekte, die sich nicht durch die physikalische Erwärmung von Gewebe durch Mobilfunkstrahlung erklären lassen. Die bestehenden Grenzwerte verfehlen also das Ziel eines umfassenden Bevölkerungsschutzes. Das trifft deshalb auch auf die Standortbescheinigungen der Bundesnetzagentur zu, die auf den „untragbaren“ Grenzwerten beruhen.