Bildungskatastrophe (II): IQB-Bildungstrend: Schulen im Digi-Tal - eine Katastrophe mit Ansage

Die pädagogische Wissenschaft schlägt Alarm und präsentiert einen Ausweg
Es ist Schluss mit lustig, denn es geht um unsere Kinder. Zwei Katastrophenmeldungen prägen derzeit die Bildungsdiskussion: Der IQB-Bildungstrend 2021 über die Kompetenzen der Viertklässlerinnen und Viertklässler ergab, fast nur noch 50% erreichen in den Grundfertigkeiten die Regelstandards. Die Studie der Kaufmännischen Krankenkasse (KKH) belegt zunehmende Sprachdefizite und Sprechstörungen von Kindern und Jugendlichen. Es ist eingetreten, wovor Fachleute seit Jahren warnen. Wir fassen hier im ersten Teil die Ergebnisse des IQB- Bildungstrends zusammen mit einer Analyse der Bildungskatastrophe durch die Pädagogikprofessoren Klaus Zierer und Ralf Lankau. Dann bringen wir Auszüge aus einem Interview mit Prof. Dr. Gertraud Teuchert-Noodt von 2019, das die Ursachen der Bildungskatastrophe vorausschauend beim Namen nannte.
Karikatur:Riemann "Devolution"

Im Jahr 2017 präsentierten die damalige Bildungsministerin Wanka zusammen mit der Bitkom-Branche den Pakt für Digitale Bildung als Königsweg zur Reform der Schulen, damit würde Deutschland wieder einen Spitzenplatz in der Bildung einnehmen. "Ende der Kreidezeit!" - WLAN und Laptop sollten den Fortschritt bringen. Pädagogen schlugen Alarm: die Digitale Bildung ist ein Geschäftsmodell der Industrie und kein pädagogisches Konzept. diagnose:funk warnte vor der Gefährdung der Gesundheit der Schüler durch die Strahlung digitaler Endgeräte und WLAN im Klassenzimmer. Doch der Hype wurde inszeniert. Seither geht es bergab, und jetzt sind die empirischen Beweise dafür da. Die von pädagogischem Wissen und Gewissen wohl völlig unbelastete Bundeswissenschaftsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) schlägt als Ausweg mit einem Digitalpakt 2.0 den weiteren Absturz ins Digi-Tal vor. Und die Tech-Konzerne verdienen sich dabei eine goldene Nase. Der Bundesrechnungshof forderte deshalb ein Ende des Digitalpaktes.

Bildungskatastrophe - warum eigentlich? Alle haben doch schlaue Smartphones!

Die bundesweiten Ergebnisse des IQB-Bildungstrends 2021 über die Kompetenzen der Viertklässlerinnen und Viertklässler sind ein Offenbarungseid. Wir haben eine Bildungskatastrophe:

  • "Im Fach Deutsch erreichen oder übertreffen im Jahr 2021 bundesweit im Bereich Lesen knapp 58 Prozent, im Bereich Zuhören etwa 59 Prozent und im Bereich Orthografie gut 44 Prozent der Viertklässler:innen den Regelstandard. Den Mindeststandard verfehlen in diesen Kompetenzbereichen fast 19 Prozent, gut 18 Prozent bzw. rund 30 Prozent der Schüler:innen. Im Fach Mathematik (Globalskala) erreichen oder übertreffen den KMK-Regelstandard in Deutschland insgesamt fast 55 Prozent der Schüler:innen und rund 22 Prozent verfehlen den Mindeststandard."
  • "Bundesweit fällt der Anteil der Schüler:innen, die im Jahr 2021 den Regelstandard erreichen, in allen untersuchten Fächern und Kompetenzbereichen signifikant geringer aus als im Jahr 2016 (Lesen: -8 Prozentpunkte; Zuhören und Orthografie: -10 Prozentpunkte; Mathematik: -7 Prozentpunkte). Gleichzeitig hat der Anteil der Schüler:innen, die den Mindeststandard verfehlen, in allen Bereichen signifikant zugenommen (Lesen: +6 Prozentpunkte; Zuhören und Orthografie: +8 Prozentpunkte; Mathematik: +6 Prozentpunkte)."
  • "Gemessen am Lernzuwachs, der innerhalb eines Schuljahres zu erwarten ist, entspricht der Kompetenzrückgang bundesweit im Lesen etwa einem Drittel Schuljahr (-22 Punkte), im Zuhören einem halben Schuljahr (-28 Punkte), in der Orthografie einem Viertel Schuljahr (-27 Punkte) und im Fach Mathematik etwas mehr als einem Viertel Schuljahr (-21 Punkte)." (Alle Zitate Pressemappe IQB Bericht)[1]

Zwei Studien der Kaufmännischen Krankenkasse (KKH) von 2020 und 2022 über Zeiträume von jeweils zehn Jahren belegen die zunehmenden Sprachdefizite und Sprechstörungen von Kindern und Jugendlichen. Prof. Ralf Lankau schreibt in seinem Artikel:

  • „Im Jahr 2021 wurden bei 8,1 Prozent der Kinder und Jugendlichen Sprachdefizite festgestellt, gegenüber 7,4 Prozent im Jahr 2019 und 5,2 Prozent im Jahr 2011. Der Anteil der Betroffenen in den verschiedenen Altersgruppen lag 2021 bei den 6- bis 10-Jährigen bei 16,0 Prozent (2019: 14,7), bei den 11- bis 14-Jährigen bei 5,5 Prozent (2019: 4,9) und bei den 15- bis 18-Jährigen bei 2,4 Prozent (2019: 2,0). Das mag man für relativ wenig halten, aber es bedeutet, dass acht Prozent der Kinder und Jugendlichen im vergangenen Jahr unter nicht altersgerechter Sprachbeherrschung litten, jeder zehnte Junge und jedes 16. Mädchen. Wichtiger als absolute Zahlen sind Tendenzen. Die Zahl der betroffenen 11- bis 14-Jährigen mit mangelnden Sprachkompetenzen stieg von 2011 auf 2021 um rund 107 Prozent, bei den 15- bis 18-Jährigen um 151 Prozent.“

Wie der Teufel das Weihwasser vermeiden die Kommentatoren in der Presse eine Ursachenforschung. Eigentlich müsste doch alles besser geworden sein, fast jeder Schüler hat ein Smartphone, kann es bestens „kompetent“ bedienen, lernt mit dem Tablet. Wie kann dann solch eine Katastrophe eintreten?

Bücher für eine humane Pädagogik

Pädagogik fordert die Fokussierung auf den Menschen

Aus der Schulpädagogik kommt ein Weckruf. Pädagogikprofessor Klaus Zierer (Augsburg) fordert in seiner Schrift „Ein Jahr zum Vergessen. Wie wir die Bildungskatastrophe nach Corona verhindern“ eine pädagogische Wende, weg von technischen Lösungen hin zur Ausbildung motivierter Lehrer. Zierer stellt fest: „Die Bildungskatastrophe ist im vollen Gang“ (S.17), er schreibt:

  • „Auf der Digitalisierungswolke schwebend glaubten viele, dass die Krise endlich dem Schulsystem den nötigen Digitalschub verleiht, um alle Probleme auf einmal zu lösen“ (S.45).
  • „Digitalisierung im Bildungsbereich darf nicht zu einer Entmachtung der Lehrperson führen, weil nach allen empirischen Studien nicht das Alter der Lernenden, nicht das Fach, nicht ein bestimmtes Medium, sondern das personale Band zwischen Lehrperson und Lernenden von zentraler Bedeutung für den Lernerfolg und schließlich für den Bildungserfolg ist“ (S.94).

Die Vorstellungen, dass das Lernen am Computer den Lehrer nur noch als Lerncoach braucht, mussten die SchülerInnen bitter büßen. Die Digitalindustrie hat mit ihrer Lobby die Katastrophe beschleunigt, Zierer fordert: „Mehr denn je braucht es eine Fokussierung auf die Menschen, statt immerzu ökonomische Interessen in den Vordergrund von Bildung zu stellen“ (S.84), weiter schreibt er:

  • „Digitalisierung war vor Corona das Thema und für viele ist sie die Lösung angesichts der Krise. Bei aller berechtigten Faszination von der Technik: Nach 30, 40 Jahren Bildungsforschung wissen wir, dass die Technik allein keine Bildungsrevolutionen hervorrufen wird. Erst wenn diese sinnvoll in Lernumgebungen integriert wird, kann sie wirksam werden ... Andernfalls droht ein digitales Mediengrab, wie es zuletzt mit Sprachlaboren und Computerräumen der Fall war“ (S.122).

Zierer zieht eine einfache Schlussfolgerung: „Kinder und Jugendliche brauchen mehr denn je Zeit und Raum für Spiel, Sport und Bewegung“ (S.43). Er plädiert für den Ausbau von Kunst, Musik und Sport, um das „inhumane Verständnis von Schule“ (S.63), das mit dem Digitalpakt auf die Spitze getrieben wurde, zu beenden. In seiner Metaanalyse „Zwischen Dichtung und Wahrheit: Möglichkeiten und Grenzen von digitalen Medien im Bildungssystem“ (2021, s. Downloads) schreibt er:

  • “Je länger sich Kinder und Jugendliche in ihrer Freizeit mit ihren Smartphones beschäftigen und je mehr Zeit sie in sozialen Medien verbringen, desto geringer ist die schulische Lernleistung.“[2]

Die Nutzungszeiten sind in der Pandemie nochmals drastisch gestiegen. „Die Menschheit wird dümmer“, stellt er in seiner zweiten aktuellen Streitschrift „Der Sokratische Eid“ (2022) fest, die eine Wende in der Pädagogik hin zur Ausbildung motivierter Lehrpersonen fordert, denn Digitalisierung „ist keine Alternative zur humanistisch angeleiteten pädagogischen Praxis.“ [3]

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„Solange wir Menschen Menschen sind, solange bleibt Lernen Lernen. Daran wird auch eine Digitalisierung nichts ändern. Und jeder, der das behauptet und forciert, verkennt den Menschen und macht aus Menschen Maschinen. Das mag durchaus für so manchen ein Ziel sein, den Homo sapiens durch den Homo digitales zu ersetzen oder zumindest ‚upzugraden‘ – nach dem Motto: Die Künstliche Intelligenz ist die Lösung für die menschliche Dummheit. Aber dann reden wir nicht mehr von Bildung, sondern von Programmierung. Und es zählt nicht mehr das, was ich aus meinem Leben gemacht habe, sondern das, was man aus mir gemacht hat“ (Klaus Zierer, Pädagogische Rundschau 4/2021)

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(Un-)Geteilte Aufmerksamkeit

Prof. Ralf Lankau (FH Offenburg) weist auf Zusammenhänge hin, die den Digitalisierern nicht in den Sinn kommen: „Es wird niemand bestreiten, dass sich das Kommunikationsverhalten der meisten Menschen durch Smartphones und Tablets stark verändert hat. Es wird niemand bestreiten, dass gerade Kinder und Jugendliche besonders offen sind für neue Medienformen. Alles aber, was wir intensiv und mit großer emotionaler Beteiligung machen, verändert unsere Persönlichkeit und unser (Sozial-)­Verhalten.

  • Jeglicher Medienkonsum prägt unser Leben, unsere Erwartungshaltung und unsere Weltsicht. Wenn nun Smartphone süchtige Eltern „keine Zeit“ finden, ihren Kindern das Sprechen beizubringen, weil sie aufs Display starren, muss man mit der Therapie bei ihnen beginnen.
  • Bei allen Unterschieden der Untersuchungen und Studien ist als Gemeinsamkeit festzustellen, dass sich der immer frühere Einsatz von digitalen Endgeräten (mittlerweile in der Kita) und steigende Bildschirmzeiten bei Kindern und Jugendlichen negativ auf Aufmerksamkeitsspannen, Konzentrationsfähigkeit, motorische, kognitive und sprachliche Fertigkeiten auswirken.

Man kann das als Korrelation verharmlosen und Kausalitäten leugnen. Richtig ist, dass immer viele Ursachen bei solchen Entwicklungen zusammenspielen. Doch allein die täglichen Bildschirmnutzungszeiten von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen (!) sind ein eindeutiges Signal für die immense Bedeutung und damit Einflussmacht, die die Anbieter von Netzdiensten mittlerweile auf den Alltag und das Erleben der meisten Menschen haben. Auch die Gegenmittel sind zumindest für Bildungseinrichtungen bekannt: Präsenzunterricht und direkter Dialog, das Lernen und Arbeiten in der Klassen- als Sozialgemeinschaft und das direkte, kommunikative Miteinander. Ob dabei ergänzend und/oder begleitend Digitaltechnik eingesetzt wird, ist nachgeordnet.“[4]

Die Gefahr eines "Weiter wie bisher"!

Angesichts der Krisen, des Lehrermangels, der Ausnahmesituation durch die Integration geflüchteter Kinder, beratungsresistenter Politiker und der IKT-Lobby besteht die Gefahr, dass die Weckrufe aus der Pädagogik und ihre positiven Konzepte nicht beachtet werden. Zwei Tage berichteten die Zeitungen über den IBQ Bericht, dann zog die Karawane weiter. Verantwortungsvolle Eltern und ErzieherInnen sind jetzt gefordert, diese Diskussion zu führen. Es geht um unsere Kinder.

Gertraud Teuchert-Noodt, Foto: Sarah Jones

»Wir machen aus unseren Kindern Psychopathen«

Gespräch mit Prof. Gertraud Teuchert-Noodt

Über Hirnschäden durch digitale Medien, »notreifende« Smartphonejunkies und Schulen als Lernvereitler.

Auszüge aus einem Interview  mit Prof. Dr. Gertraud Teuchert-Noodt [5] von 2019, das die Ursachen der Bildungskatastrophe vorausschauend beim Namen nannte, geführt von Ralf Wurzbacher am 21.2.2019 online für die nachdenkseiten.

Was läuft aus Sicht der Forschung im Gehirn von Kindern schief, wenn sie schon in jungen Jahren mit digitalen Techniken in Berührung kommen?

Gertraud Teuchert-Noodt: Anschaulich gesagt, passiert das gleiche, wie wenn ein Kleinkind an der Milchflasche nuckelt, in die Mama eine Portion Mohn eingemischt hat. Das haben manche Bäuerinnen früher gern getan, um ihr Kind während der schweren Feldarbeit ruhigzustellen. Derart verdummte Kinder liefen dann als Dorftrottel durch ihr Leben. In früheren Zeiten hat es in den Dörfern viele derart behinderte Kinder gegeben, bis man endlich die Ursachen erkannte und es vermied, Kleinkinder mit Mohn zu füttern. Mütter, die mit ihrem Baby digital unterwegs sind, machen entsprechend schwere Fehler. Natürlicherweise schaut der Säugling beim Stillen die Mutter sehr wach an. In diesen Momenten vollzieht sich eine Mutter-Kind-Prägung und eine erste Sozialisation. Wird das Smartphone dazwischen geschoben, depriviert das die jungen Nervenzellen in höchsten Regionen des Gehirns. Kinderpsychologen haben in den 1980er Jahren bereits gezeigt, dass ein mangelnder Mutter-Kind-Blickkontakt im 4. bis 6. Entwicklungsmonat in eine sogenannte Blickkontakt-Verweigerung des Kindes einmündet. „Es mag dich schon nicht mehr“, wurde unwissend kommentiert, sobald das Kind sein Köpfchen wegdrehte. Diese Verhaltensauffälligkeit verfestigte sich zu Lernschwächen im schulpflichtigen Alter und dann zum Drogenkonsum. Warum hat man daraus nichts gelernt? Das Smartphone in der Hand der Mutter nimmt das Kind unaufhaltsam mit in die digitale Abhängigkeit. Kleinkinder lernen durch Nachahmung. Natürlich wollen die kleinen Händchen auch surfen. Und weil das so einfach ist, unterstützen das die verzückten Eltern. Sie merken nicht, dass die Farben und Formen wie ein D-Zug durch das Köpfchen rasen und sie ihr Kind auf das Gleis der Lernbehinderung und Suchtentstehung stellen. Was einst der Mohn-Trottel war, ist heute der postmoderne Digi-Trottel.

Wie also müssten Kinder aufwachsen, um gegen die Gefahren der neuen Techniken gewappnet zu sein?

Gertraud Teuchert-Noodt: Das Tablet im Kinderzimmer versetzt das Kind in eine digitale Zwangsjacke. Elementare Bedürfnisse wie Krabbeln, Laufen, Klettern werden unterdrückt. Diese Bedürfnisse dienen dazu, die Sinne zu schärfen, die Muskeln zu stärken, den Geist und die Freude an körperlicher Ertüchtigung zu wecken. Nur wenn die Nervenzellen der einzelnen Hirnfelder sehr viele Kontakte mit sehr vielen anderen Zellen ausbilden, kann ein intelligentes Gehirn heranreifen. Dagegen setzt eine Kaskade von Behinderungen ein, wenn Schaltkreise des Großhirns von den Lebensadern durch digitale Spielsachen abgeschnitten sind: Das Sprechenlernen verzögert sich, die Händchen können ihre Fähigkeit nicht entfalten, einen Mal- oder Schreibstift zu halten. Kürzlich erreichte uns eine Alarmmeldung aus London, weil Sechsjährige den Stift nur mit dem Fäustchen halten konnten und die Einschulung gefährdet war.

Woraus für Sie folgen muss: Finger weg vom Smartphone!

Gertraud Teuchert-Noodt: Und das nicht nur in den Schulstunden, sondern komplett. Denken wir an die Suchtgefahr. Denken wir an die reifenden Lebensadern, die aus analoger Aktivität gespeist werden. Denken wir an die Neuroplastizität der Hirnrinde, die nur über gezielte Aktivitäten angespornt wird. Das Smartphone ist verschenktes Menschenleben.

Was ist mit den Erwachsenen? Wie und wann ist man gegen die Risiken der digitalen Überschleunigung gerüstet?

Gertraud Teuchert-Noodt: Anknüpfend an die bekannte Formulierung des Volkswirts und Journalisten Ingo Leipner, „eine Kindheit ohne Computer ist der beste Start ins digitale Zeitalter,“ will ich darauf so antworten: Eine Kindheit mit digitalen Medien ist der beste Start in einen Burnout – im Erwachsenenalter. Natürlich ist auch der Erwachsene lernfähig, denn er erhält sich eine Reserve an Plastizität bis ins hohe Alter, wenn er vernünftig lebt und im Gehirn flexibel bleibt. Beide Eigenschaften, Vernunft und Flexibilität, lassen sich bewahren und der alternde Mensch mag seinen Körper und Geist durch tägliche Lesestündchen, Bewegung in Haus und Garten fit halten.

In unseren medialen Zeiten ist es indes zu einer ernsten Lebensaufgabe geworden, sich die digitale Überschleunigung vom Leib zu halten. Wie viele Menschen fühlen sich heute aufgrund der Beschleunigung im Beruf und Alltag überfordert! Was bleibt, ist die Privatsphäre möglichst digitalfrei zu gestalten. Natürlich könnte jeder es schaffen, privat ausschließlich analog unterwegs zu sein: Ohne Navi bringt man den Orientierungssinn wieder in Gang und stärkt die Raumverrechnung im hippocampalen Schaltkreis. Ohne Handy und Homebutler der Sorte Alexa wird der Geist für Ideen und Kreativität neu erweckt. Das Leben bekommt dann erst seinen Sinn zurück.

Die Verfechter der Digitalisierung versichern ja gerne wortreich, dass es bei all dem darum gehe, Kindern einen „vernünftigen”, „verantwortungsvollen”und „kompetenten” Umgang mit den Geräten zu vermitteln. Ist das für Sie gar nicht denkbar?

Gertraud Teuchert-Noodt: Der „Digitalpakt” wird in die Geschichte als „digitaler Unmöglichkeitspakt” eingehen. Die Jahrtausendwende war auch eine Offenbarungswende für die Dekade der Hirnforschung. Seitdem liegen die Karten auf dem Tisch: Das kindliche Gehirn kann nicht digital. Erst Studenten können es schaffen, „verantwortungsvoll“ mit Medien umzugehen, wenn sie zuvor einen analogen Schulabschluss hingelegt haben. Gleichwohl vermisst man hinreichende „Kompetenz“ bei Eltern und Lehrpersonal. Das Tippen und Wischen verhindert jegliches Lernen. Rechnen, Lesen, Schreiben bleiben nun einmal Grundkompetenzen, die in Nervennetze real eingeschrieben werden müssen. Zudem ist der schulische und private Umgang mit digitalen Geräten generell für das Kind und den Jugendlichen äußerst suchtgefährdend. „Vernunft, Verantwortung und Medienkompetenz“ erfordern geistige Qualitäten, die zu allerletzt und sehr langsam im Oberstübchen des menschlichen Gehirns zur Reifung kommen und für die über die ersten 16 Lebensjahre hin überwiegend analoge Bauelemente angeliefert werden müssen.

Es ist unmöglich, auf dem Tablet spielerisch über einen Baumstamm zu balancieren, um den Gleichgewichtssinn und die nachgeschalteten Hirnzentren zu trainieren. Unumgänglich ist diese Sinnesqualität das Eintrittstor für kognitive Funktionen. Ebenso wird es dem auf Smartphone und Computer geprägten Jugendlichen in jeder Hinsicht äußerst schwer fallen, den Autoführerschein zu erwerben. Denn die komplexen Anforderungen, denen er sich bei der realen neuronalen Verrechnung von Raum-Zeit stellen muss, sind in seinem Gehirn nur ganz unzulänglich entwickelt. Außerdem ist das digitale Suchtpotential im Straßenverkehr ebenso gefährlich wie eine Drogen- und Alkoholabhängigkeit.

Unsere Politiker wären gut beraten, umgehend von der digitalen Hochrüstung der Schulen Abstand zu nehmen. Verzichten Sie auf den konfuzianischen „bitteren Weg“, Milliarden für technische Geräte an die IT-Industrie zu verschwenden und eine ganze heranwachsende Generation von Kindern krank zu machen.

Beschreiten Sie den „edlen Weg“, mehr Gelder für die Sanierung von Schulgebäuden und kindgerechte Befriedung von Schulhöfen, für Musik-, Kunst-, Theater-Projekte, gut ausgebildete Lehrer und Schulpsychologen auszugeben. Sie sägen sich anderenfalls den Ast ab, auf dem Sie sitzen.

>>> Das ganze Interview auf www.diagnose-funk.org/1340

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"Seit dem 15. Januar 2021 ist in China der Gebrauch von Smartphones an allen Schulen
zum Schutz der Gesundheit der Schüler verboten, und seit dem 1. September 2021 sind Online-Spiele für Personen unter 18 Jahren in China fast völlig verboten. Minderjährige dürfen nur noch an Freitagen, Samstagen sowie Sonn- und Feiertagen jeweils eine Stunde zwischen 20 und 21 Uhr am Computer spielen. Wiederum wurde das Verbot mit dem Schutz der körperlichen und geistigen Gesundheit Minderjähriger begründet. Wann wachen wir auf, nennen die Probleme beim Namen und beginnen damit, die nächste Generation vor den Folgen des Smartphones zu schützen?" (Manfred Spitzer in: Smartphones, Babys, Kleinkinder und Kinder im Jahr 2021, Nervenheilkunde 11/2021)

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Quellen

[1] Homepage Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen: IQB- Bildungstrend: https://www.iqb.hu-berlin.de/bt/BT2021/Bericht

[2] Klaus Zierer: „Zwischen Dichtung und Wahrheit: Möglichkeiten und Grenzen von digitalen Medien im Bildungssystem“ , Pädagogische Rundschau, 4/2021, S. 377 ff, Open Access, s. Downloads

[3] Klaus Zierer: Der Sokratische Eid, 2022, Münster

[4]  Der ganze Artikel von Prof. Ralf Lankau auf www.diagnose-funk.org/1904

[5] Prof. Dr. Gertraud Teuchert-Noodt ist Neurobiologin und Hirnforscherin und war bis zu ihrer Emeritierung Leiterin des Bereichs Neuroanatomie der Fakultät für Biologie an der Universität Bielefeld. Sie befasst sich schwerpunktmäßig mit Entwicklungsbiologie, Lern- und Psychoseforschung sowie den Auswirkungen der Nutzung digitaler Medien auf die Kindesentwicklung. 2016 erschien dazu von ihr der vielbeachtete Aufsatz »Ein Bauherr beginnt auch nicht mit dem Dach. Die digitale Revolution verbaut unseren Kindern die Zukunft.« Teuchert-Noodt hat außerdem das »Bündnis für humane Bildung – aufwach(s)en in einer digitalen Welt« mitbegründet und ist Mitglied bei diagnose:funk.

Publikation zum Thema

Format: DVDSeitenanzahl: 40 Min. Hauptfilm, 75 Min. Bonustracks Veröffentlicht am: 23.02.2021 Bestellnr.: 954, Preis 17,90 EuroSprache: DeutschHerausgeber: diagnose:funk

Aufwach(s)en im Umgang mit digitalen Medien

Was Eltern und Erzieher wissen sollten: Wie der Gebrauch digitaler Medien die Gehirnentwicklung beeinflusst
Inhalt:
Regie: Klaus Scheidsteger / Drehbuch: Gertraud Teuchert-Noodt, Peter Hensinger, Klaus Scheidsteger / Musik: Markus Stockhausen / Länge: 40 Minuten. Bonustracks: Vortrag Prof. G. Teuchert-Noodt zum Stand der Forschung (30 min) / Video über die Bedeutung des Stirnhirns (15 min) / Vortrag Peter Hensinger zum Forschungsstand WLAN (30 min). Diagnose:funk will Eltern und ErzieherInnen mit diesem Film darin unterstützen, die Entwicklung ihrer Kinder unter dem Einfluss digi­taler Medien bestmöglich zu verstehen. Ihr Kind soll zu einem gesunden, selbstsicheren und intelligenten Menschen he­ranwachsen, um später mit den komplexen Anforderungen des Lebens gut zu­rechtkommen zu können. Wie kann das gelingen, wenn Kinder heutzutage im Alltag unzähligen digitalen Medien ausgesetzt sind, die ihren Bewegungsdrang einschränken und ihre sinnli­chen Erfahrungen verkümmern lassen? Hier müssen Eltern und Erzieher die rich­tigen Entscheidungen treffen. Dieser Film vermittelt Wissen von berufener Seite, der Hirnforschung. Prof. Gertraud Teuchert-Noodt forschte an ihrem Institut über 25 Jahre über das Ler­nen und die Gehirnentwicklung. Ihre Erkenntnisse über die Wirkungen digitaler Medien auf die Gehirnentwicklung werden im Film verständlich dargestellt.
Format: DIN B5Seitenanzahl: 156 Veröffentlicht am: 30.10.2018 Bestellnr.: 111Sprache: DeutschHerausgeber: diagnose:media

Gesund aufwachsen in der digitalen Medienwelt

Orientierungshilfe für Eltern und alle, die Kinder und Jugendliche begleiten.
Autor:
Autorenteam diagnose:media
Inhalt:
Viele Beobachtungen und Studien von Experten zeigen, dass der zu frühe Kontakt von Kindern und Jugendlichen mit den neuen Medien mit erheblichen Risiken für ihre Entwicklung und ihre Gesundheit verbunden ist. Wir wissen heute: Erst wenn das Kind seine biologisch notwendigen Entwicklungsschritte in den verschiedenen Lebensabschnitten gut bewältigt hat, kann es die Fähigkeit zu einem kompetenten und selbstbestimmten Medienumgang entwickeln. Das Buch nimmt die übergeordnete Fragestellung auf, was Kinder bzw. Jugendliche für ihre gesunde Entwicklung in verschiedenen Entwicklungsphasen brauchen. Der pädagogische Standpunkt der Autoren versucht eine Balance aufzuzeigen zwischen den Wünschen der Kinder und Jugendlichen und den Einschränkungen, die als Vorsorgemaßnahmen zur Abwendung von Gefahren erforderlich sind.
Januar 2020Format: DIN A4Seitenanzahl: 100 Veröffentlicht am: 16.03.2020 Bestellnr.: 787, Preis: 9,50 Euro ISBN-10: ISBN 978-3-9820585-1-1Sprache: DeutschHerausgeber: diagnose:funk

Smart City, Digitale Bildung, Elektromagnetische Felder

Informationen zu den Folgen der digitalen Transformation unserer Gesellschaft
Autor:
Dr. Wolfgang Baur, Prof. Karl Hecht, Peter Hensinger M.A., Prof. Wilfried Kühling, Prof. Gertraud Teuchert-Noodt, Dipl. Biol. Isabel Wilke, Dr. Ulrich Warnke
Inhalt:
Sammelband der 100 Argumente - ein Handbuch für Eltern, Erzieher und Pädagogen und die Arbeit von Bürgerinitiativen. Die digitale Transformation der Gesellschaft prägt seit ca. 15 Jahren unsere Epoche.Wir sind Zeitzeugen dieses schnellen Wandels und können ihn noch beeinflussen. Die digitale Transformation hat Folgen für die Demokratie, die Umwelt und die Entwicklung des Individuums, seine Gesundheit und Psyche! Dieser Sammelband enthält 15 Artikel, die v.a. in der Zeitschrift umwelt-medizin-gesellschaft erschienen sind. Jeder Artikel informiert kompakt, kurzweilig und wissenschaftlich fundiert über ein Fachgebiet: • Smart City-die Auswirkungen des digitalen Umbaus der Städte • Forschungsergebnisse über digitale Medien und die Gehirnentwicklung bei Kindern • Interviews zur geplanten digitalen Bildung und ihren Risiken • WLAN an Schulen-was man über die Auswirkungen auf das Gedächtnis und Lernen weiß • Der Forschungsstand zu den Risiken der elektromagnetischen Felder des Mobilfunks und 5G • Die Bedeutung der elektromagnetischen Felder für die Evolution • Wissenschaftsdebatte: mit welchen Theorien wird heute versucht, Erkenntnisse über Risiken wegzudiskutieren • Die Ideologie der Digitalisierung. Umfangreiche Quellenangaben zu jedem Artikel geben dem Leser die Möglichkeit, selbst weiter zu recherchieren.
umg | 29 | 4/2016Format: A4Seitenanzahl: 3 Veröffentlicht am: 30.11.2016 Herausgeber: umwelt · medizin · gesellschaft

Ein Bauherr beginnt auch nicht mit dem Dach

Die digitale Revolution verbaut unseren Kindern die Zukunft
Autor:
Gertraud Teuchert-Noodt (unter Mitwirkung von Ingo Leipner)
Inhalt:
Allzu verständlich sind die Ängste der Eltern, die ihre Kinder chancenlos in der digitalen Welt glauben, wenn die nicht schon im Kindergartenalter Apps programmieren. Doch ganz selten nur beginnt der Bauherr seinen Hausbau mit dem Dach. Warum nur glauben so viele kluge Pädagogen, die kindliche Entwicklung könne beschleunigt werden, indem man deren Fundament einfach weglässt? Mit den Grundsätzen der Evolution erklären Neurobiologen anschaulich, warum Eltern und Lehrer sich vehement gegen frühkindliche Nutzung von Bildschirm-Medien wehren sollten – damit es nicht zu Sucht, Lernstörungen, Aggressivität oder autistischen Störungen bei den Kleinen kommt. Gertraut Teuchert-Noodt, emeritierte Professorin der Neurobiologie, blickt mit Unverständnis auf die Debatte in Nachbardisziplinen um die richtigen Mittel zur richtigen Zeit.
Januar 2022Format: A4Seitenanzahl: 12 Veröffentlicht am: 18.01.2022 Bestellnr.: 247Sprache: deutschHerausgeber: diagnose:funk

Wie die Telekommunikationsindustrie die Politik im Griff hat


Autor:
diagnose:funk
Inhalt:
diagnose:funk legt in diesem Brennpunkt eine Recherche zur Lobbyarbeit der Mobilfunkindustrie und BITKOM-Branche zur Digitalisierung vor, basierend auf der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE „Beziehungen von Telekommunikationsunternehmen zur Bundesregierung“ (Bundestagsdrucksache 18/9620, 13.09.2016). Sechs Grafiken verbildlichen die Verflechtungen. Politisch eingeordnet wird diese Analyse auf Grund eigener Erfahrungen mit Besuchen bei Bundestagsabgeordneten und dem neuen Buch „Lobbyland. Wie die Wirtschaft unsere Demokratie kauft“ (2021) des ehemaligen Dortmunder SPD-Abgeordneten Marco Bülow über seine 18-jährigen Erfahrungen im Bundestag und weiteren Literaturrecherchen.
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