Toronto will die Smart City für immer abschaffen

Die Stadt will richtig machen, was Sidewalk Labs (Google) so falsch gemacht hat.
MIT-Technology Review, 29.06.2022 von Karrie Jacobs. "Die Verantwortlichen von Toronto haben sich gegen das von einer Google-Tochter (Sidewalk Labs) anvisierte Ziel, die Stadt zu einer Smart City zu machen, und für ein neues Stadtkonzept entschieden: ländlicher Rückzugsort, statt Techno-Utopie."
Skyline TorontoWikipedia

"Bis zu einem gewissen Grad spiegelt dieser Rückzug in die Natur die sich ändernden Zeiten wider, in denen sich die Gesellschaft von einem Ort des Techno-Optimismus zu einem Ort der Skepsis entwickelt hat, gezeichnet von Datenerfassungsskandalen, Fehlinformationen, Online-Belästigungen und regelrechtem Techno-Betrug. Sicher, die Technologiebranche hat das Leben in den letzten zwei Jahrzehnten produktiver gemacht, aber hat sie es auch besser gemacht? Darauf hatte die Google-Tochter Sidewalk Labs nie eine Antwort. 

Nicht selten empören sich Bürger über neue Entwicklungen, und Utopien scheitern aus den unterschiedlichsten Gründen. Aber bei der Opposition gegen Sidewalks Vision für Toronto ging es nicht um Dinge wie den Erhalt der Architektur oder die Höhe, Dichte und den Stil der vorgeschlagenen Gebäude – das übliche Thema bei öffentlicher Empörung. Der Tech-First-Ansatz des Projekts verärgerte viele. Sein scheinbarer Mangel an Ernsthaftigkeit gegenüber den Datenschutzbedenken der Einwohner von Toronto war wahrscheinlich die Hauptursache für seinen Niedergang. In Kanada gibt es weit weniger Toleranz als in den USA für die Kontrolle öffentlicher Straßen und Verkehrsmittel durch den Privatsektor oder für das Sammeln von Daten über die Routineaktivitäten von Menschen, die ihr Leben führen. „In Kanada geht es um Frieden, Ordnung und eine gute Regierung. Die Kanadier erwarten nicht, dass der Privatsektor eingreift und uns vor der Regierung rettet, weil wir der Regierung großes Vertrauen entgegenbringen“, sagt Alex Ryan, Senior Vize-Präsident einer gemeinnützigen Organisation in Toronto.

  • Das neue Stadtkonzept Quayside betont die Bedeutung des menschlichen Lebens, der Pflanzenwelt und der Natur und ist eine auffällige Ablehnung des Smart-City-Konzepts.

Das Projekt suggeriert mutig, dass die Bewohner ihre Stadt jetzt sowohl metaphorisch als auch buchstäblich grün haben wollen – die Entwürfe dieses Konzepts zeigen Bäume und Grünpflanzen, die von allen möglichen Balkonen und Vorsprüngen sprießen, ohne dass ein autonomes Fahrzeug oder eine Drohne zu sehen ist.

  • Jennifer Keesmaat, ehemalige Chefplanerin von Toronto ist der Meinung, dass weniger Abhängigkeit von der Technik und mehr bürgerschaftliches Engagement der neue Weg nach vorn sein könnten.

Die Smart City war in den letzten zwei Jahrzehnten das vielleicht vorherrschende Paradigma in der Stadtplanung. Der Begriff wurde ursprünglich von IBM in der Hoffnung geprägt, dass Technologie die Funktionsweise von Städten verbessern könnte, aber als Strategie für den Städtebau wurde sie am erfolgreichsten unter autoritären Regimen eingesetzt. 

Kritiker sagen, das Konzept der Smart City neige dazu, die Bedeutung des Menschen bei der Suche nach technologischen Lösungen zu übersehen. Auch wenn die architektonischen Entwürfe fabelhaft waren, hatte die Idee der Smart City immer Probleme. 

  • Der Begriff selbst deute darauf hin, dass es bestehenden Städten an Intelligenz mangelt, obwohl sie im Laufe der Menschheitsgeschichte 'Brutstätten' für Kultur, Ideen und Intellekt waren.

Das eigentliche Problem ist, dass intelligente Städte mit ihrer Betonung auf der Optimierung von allem darauf ausgelegt zu sein scheinen, genau das auszumerzen, was Städte wunderbar macht. New York und Rom und Kairo (und Toronto) sind keine großartigen Städte, weil sie effizient sind: Die Menschen fühlen sich von der Unordnung angezogen, von den überzeugenden und zufälligen Interaktionen innerhalb einer wilden Mischung von Menschen, die in unmittelbarer Nähe leben. Aber die Befürworter der Smart City vertraten stattdessen die Idee der Stadt als etwas, das quantifiziert und kontrolliert werden muss."

Es lohnt sich sehr den ausführlichen Artikel im Technology Review des MIT im Original zu lesen: >>> Toronto wants to kill the smart city forever. The city wants to get right what Sidewalk Labs got so wrong, MIT-Technology Review, 29.06.2022.

  • "Wäre es gelungen, hätte Quayside ein Proof of Concept sein und ein neues Entwicklungsmodell für Städte auf der ganzen Welt etablieren können. Es hätte zeigen können, dass das in China und am Persischen Golf eingeführte, mit Sensoren beladene Smart-City-Modell einen Platz in demokratischeren Gesellschaften hat. Stattdessen konnte der zweieinhalbjährige Kampf von Sidewalk Labs, eine Nachbarschaft „vom Internet aus“ aufzubauen, nicht überzeugen, warum jemand darin leben möchte."

Vorlage: www.bvmde.org

 

Smart CityGrafik: monicado - stock.adobe.com

Was bedeutet die Smart City?

 

Dazu hielt Peter Hensinger einen Grundsatz-Vortrag auf der 12. Offenen Akademie 2022 mit dem Titel: "Digitale „Transformation“ des Kapitalismus – neue Produktivkraft oder destruktives Wachstum?" In diesem Vortrag heisst es (Auszüge):

 

 

 

 

"Die Digitalisierung hat aus vier Gründen negative Auswirkungen:

Der erste Grund: Die Digitalisierung ist der Wachstumstreiber Nummer 1. Für Milliarden neuer Geräte für das Internet der Dinge, für autonome Autos, Videostreaming, energiefressende Serverparks und für die digital gesteuerte Massenproduktion von Lebensmitteln werden Wälder, Regenwälder und andere Naturräume noch intensiver als bisher in Minen und Abraumhalden verwandelt. Das ist eine Ursache des Artensterbens und beschleunigt die Umweltkrisen.

Der zweite Grund: Die digitale Transformation beruht auf Big Data. Von jedem Menschen immer zu wissen, wo er sich befindet, was er denkt und was er tut ist die DNA digitaler politischer Steuerung. Auch die Erziehungsinstitutionen sollen durch eine digitale, von Algorithmen gesteuerte Bildung dafür umgebaut werden. Es entsteht eine smarte Diktatur, die durch digitale Profile über neue Mechanismen der Kontrolle und Meinungsmanipulation verfügt, die den Menschen beim Denken zuschauen kann, mit dem erklärten Ziel, Herrschaft zu stabilisieren und Gesellschaftsveränderungen zu verhindern.

Der dritte Grund: Die Umwelt wird zu einer noch mehr krankmachenden Noxe, nicht nur durch die Naturzerstörung in Folge der Ressourcenausbeutung, sondern durch den Ausbau der digitalen Infra­struktur mit der 5G- und 6G-Technologie, d. h. hunderttausende neue Sendeanlagen, die eine gesund­heitsschädliche Strahlung emittieren.

Der vierte Grund: 5G soll die Kriegsführung perfektionieren. Die Bundeswehr wird digitalisiert nach der Devise „Wer nicht digitalisiert, verliert!“. Die Nato-Staaten forcieren jetzt die digitale Vernetzung der Kampftruppen.[i]

Weil die Digitalisierung mit großer Geschwindigkeit ausschließlich nach Profitinteressen durchgesetzt wird, kommt das positive Potenzial, das in ihr steckt, nicht zum Zuge. Vor den mit hoher Wahrschein­lichkeit eintretenden Worst-Case-Szenarien warnen in Analysen u. a. der Wissenschaftliche Beirat Globale Umweltveränderungen der Bundesregierung (WBGU) und viele Sozialwissenschaftler.[ii] Die Politik nimmt diese Warnungen nicht ernst, ist im Digitalisierungs-Hype, und betätigt sich als geschäfts­führender Ausschuss der Industrie.

Ich analysiere diese Entwicklung exemplarisch am Beispiel der Smart City, der Aufrüstung, den Auswirkungen auf die Umwelt und der sogenannten Digitalen Bildung. Aus Zeitgründen gehe ich nicht ein auf Industrie 4.0 und die Folgen für die Arbeitsplätze, die Digitalisierung der Landwirtschaft und  des Gesundheitswesens.

1. Smart City als Überwachungs- und Disziplinierungsstruktur

Die Transformation der Städte zu Smart Cities ist ein Hauptprojekt der Bundesregierung, festgelegt in der „Smart City Charta“ und in der „5G-Strategie für Deutschland“. Smart Cities und Smart Countries sind vernetzte Städte und Landkreise, in denen der Datenfluss die Grundlage der Organi­sationsstruktur und politischen Steuerung ist. Daten für dieses Big-Data-System liefern die Einwohner über das Internet der Dinge (IoT) und die vernetzten Geräte im Smart Home: Smart Meter, Smart Grid, Alexa, der intelligente Kühlschrank, der vernetzte Fernseher und Saugroboter, über ihre Mobilitäts­pässe, mobile Fahrzeugdaten, Smartphones, Tablet-PCs, smarte Armbanduhren, auch über die Plattformen Google, Facebook, Twitter, Instagram oder WhatsApp. Algorithmen verarbeiten in Echtzeit die Daten, erstellen von jedem Bürger einen digitalen Zwilling als Grundlage für die Steuerung des Zusammenlebens. Die Smart-City-Planungen von Industrie und Bundesregierung bekamen 2018 vom Verein Digitalcourage e. V. den BigBrotherAward. In der Laudatio heißt es:

Als große Errungenschaft für eine ‚Smart City‘ wird zum Beispiel ein neuer Typ Straßenlaterne angepriesen. Die leuchtet nicht nur, sondern enthält auch gleich Videoüberwachung, Fußgänger-Erkennung, Kfz-Kennzeichenleser, Umweltsensoren, ein Mikrophon mit Schuss-Detektor und einen Location-Beacon zum Erfassen der Position. Stellen wir uns dies noch kombiniert mit WLAN vor, mit dem die Position von Smartphones ermittelt werden kann, Gesichtserken­nung und Bewegungsanalyse, dann ist klar: Wenn diese Technik in unsere Stadt kommt, werden wir keinen Schritt mehr unbeobachtet tun.“ [iii]

  • Die Voraussetzung für die Smart City, die Grundlage ihrer Organisation ist es, von jedem Bürger in Echtzeit immer zu wissen, wo er sich befindet und was er tut. Der gläserne Bürger ist die DNA der Smart City. Städte werden von Orten kommunaler Demokratie zu überwachten Zonen umgebaut."

In einem eigenen Kapitel werden die ökologischen Folgen der Smart City behandelt.

>>> Download des Vortrages auf der Homepage der Offenen Akademie.

Quellen

[i] Informationsstelle Militarisierung: Das Militär als Triebkraft des 5G-Ausbaus: „Wer nicht digitalisiert, verliert." https://www.diagnose-funk.org/aktuelles/artikel-archiv/detail?newsid=1815

[ii] Der Wissenschaftliche Beirat Globale Umweltveränderungen (WBGU) (2019): Unsere gemeinsame digitale Zukunft, Berlin

Sühlmann-Faul F, Remmler S (2018): Der blinde Fleck der Digitalisierung, oekom

Lange S, Santarius T (2018): Smarte grüne Welt? Digitalisierung zwischen Überwachung, Konsum und Nachhaltigkeit, München

Wolff ML (2019): Über eine Superideologie namens Digitalisierung, Westend, 2010

Grunwald A (2019): Der unterlegene Mensch, München

[iii] „Eine ‚Smart City‘ ist die perfekte Verbindung des totalitären Überwachungsstaates aus George Orwells ‚1984‘ und den normierten, nur scheinbar freien Konsumenten in Aldous Huxleys ‚Schöne Neue Welt‘. Der Begriff ‚Smart City‘ ist eine schillernd-bunte Wundertüte – er verspricht allen das, was sie hören wollen: Innovation und modernes Stadtmarketing, effiziente Verwaltung und Bürgerbeteiligung, Nachhaltigkeit und Klimaschutz, Sicherheit und Bequemlichkeit, für Autos grüne Welle und immer einen freien Parkplatz. […]“ https://bigbrotherawards.de/2018/pr-marketing-smart-city

 

 

 

 

 

Artikel veröffentlicht:
09.07.2022
Autor:
MIT-Technology Review/diagnose:funk

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