Die Grenzwerte, die in Deutschland gelten, wurden von der ICNIRP (International Commission on Non-Ionizing Radiation Protection) vorgeschlagen. Sie schützen vor der Wärmewirkung der nicht-ionisierenden Strahlung, die bei Mobilfunkgeräten und den Sendemasten zur Datenübertragung eingesetzt wird. Sie beinhalten nicht den Schutz vor nicht-thermischen Wirkungen, deren Existenz die ICNIRP als nicht gesichert ansieht und in ihren Richtlinien bei der Risikobeurteilung unberücksichtigt lässt.[1]
Das deutsche Bundesamt für Strahlenschutz beteuert, dass durch die Grenzwerte die Gesundheit geschützt sei. Eine andere Wirkung von nicht-ionisierender Strahlung auf Zellen unterhalb der Wärmeschwelle, sogenannte athermische Effekte, gäbe es nicht. Dieses "thermische Dogma" gibt es ca. seit dem Jahr 1950. Aber darüber gab es auch immer eine heftige Debatte. Im letzten halben Jahr wird diese Auseinandersetzung verschärft geführt. Wir haben sie >>> hier dokumentiert. Die Kritik: die Festlegung der Grenzwerte sei willkürlich, pragmatisch in den 50er-Jahren für das Militär festgelegt und schließe alle Erkenntnisse über nicht-thermische Wirkungen der Strahlung aus. Diese wurden in den damaligen Ostblockländern anerkannt und führte dort zu wesentlich strengeren Grenzwerten.
Das thermische Dogma rechtfertigt den Netzausbau
Doch das thermische Dogma wackelt. Das Schweizer Bundesamt für Umwelt (BaFu) bestätigt nun auf seiner Homepage athermische Wirkungen:
- "Die thermischen Wirkungen (Wärmewirkungen wie bei Fieber) sind wissenschaftlich gut untersucht. Sie treten erst ab einer gewissen Stärke (Intensität) der Strahlung auf - ab einer Stärke, wie sie in der Umwelt normalerweise nicht vorkommt. Aber auch unterhalb dieser Schwelle werden biologische Wirkungen beobachtet. Man bezeichnet sie manchmal als nicht-thermische Wirkungen. Wie diese ausgelöst werden und ob sie schädlich sind, wird weiterhin erforscht."
- "Verschiedene Studien weisen auf biologische Effekte hin, die durch Strahlung mit einer Intensität deutlich unterhalb der internationalen Grenzwerte ausgelöst werden. Derartige Effekte werden auch als nicht-thermische Wirkungen bezeichnet."[2]
Doch beim Mobilfunkausbau in Deutschland wird aktuell an den hohen ICNIRP-Grenzwerten festgehalten und das weiterhin mit dem thermischen Dogma legitimiert. So schrieben z.B. Dr. Caroline Herr / Prof. Alexander Lerchl, zwei führende Repräsentanten deutscher Strahlenschutzpolitik:
- „Weder zellbiologische, tierexperimentelle noch Untersuchungen am Menschen haben bislang Hinweise darauf erbracht, dass elektromagnetische Felder des Mobilfunks in für Menschen relevanten Expositionsszenarien negative gesundheitliche Auswirkungen haben. Aus biophysikalischen Gründen ist nicht zu erwarten, dass neben thermischen Effekten, die durch die Grenzwerte ausgeschlossen werden, weitere, bislang nicht bekannte Wirkmechanismen identifiziert werden.“
- "Die Quantenenergie der elektromagnetischen Felder des Mobilfunks ist viel zu gering, um ionisierend wirken zu können. Die einzige wissenschaftlich anerkannte Wirkung dieser Felder ist Erwärmung, da sie von Wasser und Gewebe absorbiert werden. Die Vermeidung von gesundheitlich relevanten Temperaturerhöhungen ist die Basis der Grenzwerte. Trotz jahrzehntelanger Forschungen haben sich andere angenommene Effekte als nicht reproduzierbar und somit als wissenschaftlich nicht belegbar herausgestellt. Dementsprechend hat die WHO in einer kürzlich veröffentlichten Stellungnahme keine weiteren Studien zu Mechanismen als forschungswürdig erkannt." [3]
Daraus zieht A. Lerchl an anderer Stelle einen klaren Schluss:
- „Daher sind auch sogenannte Schutzmaßnahmen - etwa das Schlafzimmer von elektrischen Geräten frei zu halten, das Handy eingeschränkt zu benutzen oder gar sein Haus von einem Baubiologen gegen Strahlung abschirmen zu lassen - überflüssig. Verwenden wir unsere Sorge und Energie lieber in den Schutz vor echten Gesundheitsbedrohungen.“ (Zeitschrift „Alverde“, dm-Markt, Februar 2011)
Auf Grundlage solcher Entwarnungen kann die Industrie Sorglosigkeit verbreiten. Vodafone-Deutschland-Chef Dr. Ametsreiter sagte aktuell in einem Interview:"Wir kennen keine anerkannte Studie, die gesundheitliche Schäden durch 5G belegt" (Stuttgarter Zeitung, 25. 05. 2021). Gesundheitsbedenken zur Mobilfunkstrahlung seien "irrationale Ängste". Diese Demonstration dogmatischer Unfehlbarkeit schlägt sich in Textbausteinen nieder. Besorgte BürgerInnen bekommen von den Behörden von Flensburg bis Garmisch und von allen (!) Bundestagsparteien die Antwort: "Die Grenzwerte schützen!" Das thermische Dogma ersetzt das Nachdenken.
Dass weder eine Vorsorgepolitik noch eine Gefahrenabwehr zum Schutz der Bevölkerung stattfinden muss, wird also mit zwei Hypothesen gerechtfertigt: (i) nicht-ionisierende Strahlung habe nicht die Energie, Zellverbindungen zu zerstören (Energiethese), (ii) ein anderer Wirkmechanismus sei nicht bekannt und auch biophysikalisch nicht zu erwarten. Daher müsse eigentlich auch nicht weiter geforscht werden. Beide Hypothesen sind längst durch Studien widerlegt, die nachweisen, (i) dass die nichtionisierende Strahlung gesundheitliche Schäden auf indirektem Weg durch veränderte Zellprozesse verursacht und (ii) der Wirkmechanismus dafür bekannt ist.[4]
Das thermische Dogma führt zu dem Paradox, dass es hunderte Studienergebnisse, die nicht-thermische Wirkungen nachweisen, eigentlich gar nicht geben dürfte. Anders ausgedrückt: Wenn ein Gesetz oder eine Verordnung festlegt, dass es eine Schädigung nicht gibt, kann es sie auch nicht geben, egal was die Wissenschaft sagt. Dieses Dogma rechtfertigt, dass alle diese Studien in der Risikobeurteilung nicht berücksichtigt werden müssen. Und diese Unterschlagung relevanter Studienergebnisse wird auch in den Reviews der ICNIRP- assoziierten Gremien praktiziert (siehe dazu v.a. Starkey 2016 und die neuen Dokumentationen dazu).
Die Schweizer Regierung kippt mit ihrer Nennung athermischer Wirkungen und der Veröffentlichung der Studie von Schürmann / Mevissen, die den Wirkmechanismus Oxidativer Zellstress nachweist, das herrschende Dogma und entzieht der ICNIRP-dominierten Strahlenschutzpolitik, wie sie in den meisten Ländern praktiziert wird, die Legitimation.[5]