Kommentar von Prof. Dr. med. Franz Adlkofer
Professor Dariusz Leszczynski äußert sich in seinem Bericht auch zu Themen, die im Verlauf des Kongresses selbst wenig Beachtung gefunden haben, aber nach seiner Überzeugung von besonderer Bedeutung sind. Diese betreffen (1) die falschen Voraussetzungen, unter denen frühere in vitro Laborstudien durchgeführt wurden und (2) die Unterschätzung des Hirntumorrisikos aufgrund des Fehlens zuverlässiger Angaben zur Strahlen-exposition in den bisher durchgeführten Fall-Kontroll-Studien.
1. Konsequenzen aus der jüngsten Publikation von Schmid und Kuster
Enttäuscht zeigt sich Leszczynski darüber (s. Bericht unter Probleme bei der Replikation), dass bei der Konferenz auf die Konsequenzen, die sich seiner Überzeugung nach aus der jüngsten Publikation von Schmid und Kuster (Bioelectromagnetics 2015:36(2):133-48. doi:10.1002/bem.21895. Epub 2015 Jan 30) ergeben, mit keinem Wort eingegangen wurde. In dieser Publikation wird berichtet, dass 51 von 80 Laborstudien aus den Jahren 2002 bis 2015, in denen die biologischen Wirkungen der 900 MHz- bzw. 1800 MHz-Strahlung untersucht wurden, bei SAR-Werten von 2 W/kg oder darunter durchgeführt wurden. Dies bedeutet, dass die physikalisch bedingte Ungleichmäßigkeit der Strahlenexposition unberücksichtigt geblieben ist. Die Autoren weisen in ihrer neuen Arbeit nach, dass die maximale Strahlenexposition von oberflächlichen Geweben beim Menschen (Haut, Muskeln und Blut) auf Zellebene 40 W/kg überschreiten kann. Daraus ergibt sich, dass die Ergebnisse dieser 51 Untersuchungen, falls negativ, bedeutungslos sind, und falls positiv, wohl weit unterhalb des tatsächlichen Wertes liegen. Leszczynski schlägt deshalb vor, dass zumindest alle wichtigen Studien aus dieser Reihe nochmal durchgeführt werden.
Der SAR-Wert von 2W/kg ist bekanntlich der Grenzwert für die lokalisierte Exposition von Menschen gegenüber der Hochfrequenzstrahlung, bei dessen Einhaltung entsprechend den Vorgaben der Internationalen Kommission zum Schutz vor der nicht-ionisierenden Strahlung (ICNIRP) mit gesundheitlichen Risiken beim Menschen nicht zu rechnen ist. Aus der Arbeit von Schmid und Kuster ergibt sich jedoch, dass bei der Mobilfunknutzung die SAR-Werte bei der 900 MHz- und 1800 MHz-Strahlung zumindest in oberflächlichen Geweben, z.B. in Blutzellen, Keratinozyten, Fibroblasten, Nervenzellen, usw., weit überschritten werden können. Leszczynskis Forderung, dass der SAR-Wert bei zukünftigen Untersuchungen der biologischen Wirkungen der Hochfrequenzstrahlung nicht auf 2W/kg beschränkt wird, sondern auf SAR-Werte weit darüber ausgedehnt wird, ist berechtigt und bedarf der Unterstützung durch die unabhängige Wissenschaft (https://betweenrockandhardplace.wordpress.com/2015/02/12/the-gamechanger-revision-of-dosimetry-by-schmid-kuster/).
Die Tatsache, dass selbst bei Einhaltung des geltenden Grenzwertes in einer Reihe von Studien biologische Wirkungen von Relevanz für die Krankheitsentstehung festgestellt wurden, reichte eigentlich aus, um die Sinnhaftigkeit dieses Grenzwertes in Frage zu stellen. Da dieser Grenzwert – wie in der Arbeit von Schmid und Kuster gezeigt – bei der Mobiltelefonnutzung offensichtlich regelhaft überschritten wird, kann eigentlich nur noch von Betrug gesprochen werden. Dieser wird von Prof. Norbert Leitgeb, Mitglied der Strahlenschutzkommission (SSK) der Bundesregierung, wie folgt erklärt: It is necessary to remind that agreeing on limits is a political issue rather than a scientific one. Science provides information on existing knowledge, but it is a political issue to take the decision on limits. This is for a simple reason: Limits are not for free. There is a price to be paid for them – in terms of money, discomfort, time, unintended side-effects etc… [Es ist notwendig daran zu erinnern, dass die Vereinbarung von Grenzwerten eher eine politische als eine wissenschaftliche Angelegenheit ist. Die Wissenschaft liefert zwar die Information über das vorhandene Wissen, die Entscheidung über Grenzwerte ist jedoch Angelegenheit der Politik. Dies aus einem einfachen Grund: Grenzwerte bekommt man nicht umsonst. Es muss ein Preis dafür bezahlt werden – im Sinne von Geld, von Beschwerden, Zeit, unbeabsichtigten Nebenwirkungen, usw… ] Leitgeb Zynismus vorzuwerfen, erscheint mir nicht berechtigt. Er beschreibt ja nur, was Politik und Industrie ihren Untertanen zumuten.
2. Unterschätzung des Hirntumorrisikos in epidemiologischen Studien
In den bis heute durchgeführten Fall-Kontroll-Studien (INTERPHONE, Hardell-Gruppe, CERENAT) und in der derzeit laufenden Kohortenstudie COSMOS wird die Dauer der Mobiltelefonnutzung als Ersatz für die Strahlenexposition verwendet. Auf dieser Grundlage wird das Hirntumorrisiko der Mobilfunknutzer berechnet. In der Untersuchung von Toledano et al., auf die Leszczynski in seinem Bericht eingeht (s. Bericht unter Epidemiologie), wird lediglich gezeigt, dass die selbst-berichteten Angaben über die Dauer der Mobiltelefonnutzung an Genauigkeit zu Wünschen übrig lassen. In der Regel wird sie jedoch eher unterschätzt. Genauso wichtig oder sogar wichtiger als die Dauer der Mobiltelefonnutzung sind für die tatsächliche Strahlenexposition – was Leszczynski ebenfalls anspricht – andere Faktoren, z.B. die Entfernung des Nutzers von der Basisstation oder die individuelle Art des Haltens und Bewegens des Mobiltelefons in Ohrnähe. Die Nutzungsdauer des Mobiltelefons ist deshalb ein eher unzuverlässiger Parameter für die tatsächliche Strahlenexposition.
Mit dem Wissen von heute muss geradezu mit Erstaunen zur Kenntnis genommen werden, dass bei den bisherigen Fall-Kontroll-Studien überhaupt ein erhöhtes Hirntumorrisiko festgestellt wurde. Gleichzeitig muss davon ausgegangen werden, dass dieses Hirntumorrisiko weit höher gewesen wäre, wenn es auf der Grundlage der tatsächlichen Strahlenbelastung berechnet worden wäre. Zwei Personen, deren Anruf genau gleich lang dauert, können der Mobilfunkstrahlung – wie oben festgestellt – sehr unterschiedlich stark ausgesetzt sein. Wenn diese beiden Personen in Studien wie INTERPHONE, der Hardell-Gruppe, CERENAT und COSMOS in dieselbe Gruppe eingeordnet werden, wird bei der statistischen Auswertung das Hirntumorrisiko bei der einen Person fälschlicherweise vermindert und bei der anderen Person fälschlicher-weise erhöht. Smartphone-Apps, von denen es bereits eine Testversion gibt, ermöglichten es, die Strahlenexposition eines Mobiltelefonnutzers exakt erfassen. Der Einsatz solcher Geräte in zukünftigen epidemiologischen Studien dürfte nicht nur den definitiven Beweis erbringen, dass die Mobilfunkstrahlung das Hirntumorrisiko tatsächlich erhöht, sondern darüber hinaus Betroffenheit wegen der zu erwartenden Höhe auslösen. Politik und Industrie werden dann wie üblich ihre Hände in Unschuld waschen.
Prof. Dr. med. Franz Adlkofer
Pandora-Stiftung für unabhängige Forschung