Behauptungen & Scheinargumente Teil II

Handys so "schädlich" wie Aloe Vera, Kaffee und Gemüse? SPIEGEL mit Argumenten aus der Telekom-Mottenkiste
Der SPIEGEL vom 20.07.2019 holt im Artikel »Blindes Vertrauen« totgeglaubte Argumente aus der Telekom-Mottenkiste. Die Telekom ließ 2011 Textbausteine entwickeln, um die Kritik am Krebsrisiko der Mobilfunkstrahlung zu relativieren:Mobilfunkstrahlung sei so schädlich wie Kaffee, eingelegtes Gemüse (Mixed Pickles), Gurken und Aloe Vera. Der SPIEGEL schreibt aktuell: "Die Krebsforschungsagentur der Weltgesundheitsorganisation hingegen stuft hochfrequente elektromagnetische Felder schon seit 2011 zumindest als »möglicherweise krebserregend« ein – ähnlich wie Aloe vera."

Hier die ganze Geschichte, die wir bereits 2016 veröffentlichten: Die Diskussion, ob Mobilfunkstrahlung Krebs auslöst, ist durch die NTP-Studie der US-Behörden wie­der im medialen Mittelpunkt. Bisher war die Mobilfunkstrahlung von der WHO in der Kategorie 2B als "möglicherweise krebserregend" eingestuft. Auf Grund der NTP-Studie fordern jetzt Wissenschaftler die Einstufung in Gruppe 1 "krebserregend". Die Mobilfunkindustrie kontert seither mit Verharmlosungsstrategien, die sie 2011 ausarbeiten ließ: Mobilfunkstrahlung sei so schädlich wie Kaffee, eingelegtes Gemüse (Mixed Pickles), Gurken und Aloe Vera, denn diese Produkte seien auch in 2B eingestuft.

Seither ist man in Zeitung­s­­­artikeln und auf Vorträgen immer wieder mit diesem Argument konfrontiert. So schrieb z.B. DIE ZEIT: „Dennoch stufte die Internationale Krebsforschungsbehörde – eine Einrichtung der WHO – Handystrahlung sicherheitshalber als »möglicherweise krebserregend« ein und berief sich dabei vor allem auf die Interphone-Studie sowie eine weitere schwedische Untersuchung. Die Entschei­dung ist umstritten – und wenig hilfreich: Auf der Liste 2B »möglicherweise krebserregend« stehen 274 Substanzen, darunter Blei, Schiffsdiesel und Chloroform, aber auch Kaffee.“ (22.08.2013) Die aktuelle NTP-Studie kommentiert auch macwelt Online so: "Die Weltgesundheitsorganisation WHO sieht in Mobilfunk­strahlung ein ähnlich hohes Risiko wie beim Verzehr von eingelegten Gemüse oder Kaffee"(30.05.2016).(1) Kaffee! Na dann! Von Nutzern wird diese Botschaft natürlich erleichtert aufge­nommen. Bei der Klassifizierung von Kaffee als "möglicherweise krebserregend" durch die WHO (2) ging es um signifikante Auffälligkeiten vor allem bei Instant-Kaffee - und bei Versuchstieren, denen ausschließlich Kaffee zur Nahrungsauf­nahme verabreicht wurde.

Die Telekom finanzierte das Kaffee-"Argument"

Diese Kommunikationsstrategie des Vergleichs Mobilfunk & Kaffee stammt von Prof. Wiedemann, einem deutschen Risikoforscher. Sein Strategievorschlag lautet: das Krebs-Risiko durch Alltags-Vergleiche normalisieren. Auf seiner Homepage gibt er unter dem Titel "Wie kann man “möglicherweise krebserregend” besser kommunizieren?" den Ratschlag, den Kaffeevergleich zu nutzen. Dort schreibt er in einer Argumen­ta­tions­hilfe für das Wissenschafts­forum EMF (WF-EMF): "Das Insektizid DDT und Kaffee (Kaffeesäure) werden auch als „möglicherweise krebserregend für den Menschen“ eingestuft."(3) Und: "Die Klasse 2b – möglicherweise krebserregend für den Menschen“ – trifft auch für Kaffee-Säure zu, die in Kaffee-Getränken enthalten ist. Darüber hinaus wäre es hilfreich, wenn man weiß, dass alkoholische Getränke als „krebserregend“ eingestuft sind."(4) Es geht also laut Wiedemann um die Wirkung von Kaffesäure. Ihre Wirkung über den Kaffee-Konsum führte in einem Tierexperi­­­ment zu Blasenkrebs. In den Medien wird aus Kaffeesäure einfach Kaffee. Diese verharm­losende Formulierung ist einkalkuliert. Die Normalisierung manipuliert die Gedanken. Nach dem „Kaffee“-Argument wird wohl jeder erleich­tert aufatmen: Seit Jahren genieße ich meinen geliebten Espresso (oder mein Viertel Rotwein), warum soll ich mir dann Sorgen bei der Smartphone-Nutzung machen?

Wiedemanns Risikokommunikationsstrategie ging auf, weltweit wird sie in den Medien seit 2011 bis heute übernommen. Und: Wie kommt die ZEIT zu der Behauptung, die Entscheidung der WHO sei „umstritten“? Die WHO-Entschei­dung wurde in der Krebsagentur der WHO, der IARC, mit großer Mehrheit gefällt. Angegriffen wird sie nachträglich von der Industrie und deren Mietmäulern. Die Europäische Umwelt­agentur (EUA) warnte ausdrücklich vor diesen Entwarnungs­kampagnen, die Medien führen sie bis heute weiter.(5) Das WF-EMF, für das Prof. Wiede­­mann die Kommunikationsstrategie ausarbeitete, wurde auf Initiative der Telekom gegründet (6). Der Forschungsauftrag über die Risikokommunikation zu Mobilfunk und Krebs an das KIT und WF-EMF wurde von der Telekom finanziert: https://www.itas.kit.edu/projekte_wied11_wf-emf.php. Das WF-EMF wurde 2015 wieder eingestellt.

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Prof. Alexander Lerchl, ehem. Mitglied der Strahlenschutzkommission, verbreitet den Textbaustein "Kaffee trinken und eingelegte Gewürzgurken" (Originalquelle:https://www.youtube.com/watch?v=2XLTB4ttlhY, Minute 26:00).

Aktualisierung 2019:

Der SPIEGEL und Aloe Vera

Der Spiegel vom 20.07.2019 greift im Artikel »Blindes Vertrauen« diese Textbausteine wieder auf, um die Kritik an der Einführung von 5G zu relativieren. Er schreibt: "Die Krebsforschungsagentur der Weltgesundheitsorganisation hingegen stuft hochfrequente elektromagnetische Felder schon seit 2011 zumindest als »möglicherweise krebserregend« ein – ähnlich wie Aloe vera."

Die WHO schreibt im Monograf Aloa Vera Mono 108-1:

  • "Bei Versuchstieren gibt es genügend Belege für die Karzinogenität von Ganzblattextrakt aus Aloe Vera."[1]
    Ratten wurden zwei Jahre damit getränkt. Die WHO beruft sich dabei auf mehrere Studien, u.a. von Boudreau et al. 2012.[2]

[1] Download: https://monographs.iarc.fr/wp-content/uploads/2018/06/mono108-01.pdf

[2] Download:https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC353712

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1) Das Gemüse & Gurken-Argument ist ebenso eine Verharmlosung wie das Kaffee-Argument. Es handelt sich nicht um Gemüse an sich, sondern um einen Fermentierungsprozess in asiatischen Ländern, bei dem krebserregende Substanzen entstehen: http://www.inchem.org/documents/iarc/vol56/02-pick.html . Da lediglich Studien aus Japan und Hawaii verwendet wurden, wo besondere Fermentierungsprozesse eine Rolle spielen, lassen sich die Ergebnisse nicht auf "unsere" Gurken übertragen. Jedenfalls ist bei der japanischen Art Gurken einzulegen - es ging definitiv nicht um deutsches Konservengemüse - wissenschaftlich belegt, dass durch einen Fermentierungsprozess schädliche Giftstoffe entstehen können, die durchaus dann Krebs auslösend (mutagen) wirken können.

2) http://www.inchem.org/documents/iarc/vol51/01-coffee.html 

3) http://www.wiedemannonline.com/2012/09/wie-kann-man-moglicherweise-krebserregend-besser-kommunizieren-2/ (letzter Zugriff 19.05.2016)

4) Blogbeitrag : "Die Tücken der Risikokommunikation. Wie die IARC besser über das mögliche Krebs-Risiko durch Handynutzung informieren könnte, Posted on 15. September 2011 by Wiedemann", http://www.wiedemannonline.com/2011/09/die-tucken-der-risikokommunikation-wie-die-iarc-besser-uber-das-mogliche-krebs-risiko-durch-handynutzung-informieren-konnte/ Zugriff 08.06.2016

5) https://www.diagnose-funk.org/aktuelles/artikel-archiv/detail?newsid=587

6) So schreibt das Gründungsmitglied und Financier des WF-EMF, die deutsche Telekom:
"Unser Ziel ist es, die Unsicherheit in der Bevölkerung abzubauen – durch eine sachliche, wissenschaftlich fundierte und transparente Informationspolitik. So engagieren wir uns in einer Brancheninitiative der Mobilfunk-Unternehmen: im „Informationszentrum Mobilfunk“, ein umfassendes Informations- und Dialogangebot für die Öffentlichkeit. Unser Bestreben, modernste Technologien anzubieten, beinhaltet auch die Förderung wissenschaftlicher Forschung, um mögliche Risiken frühzeitig zu erkennen. Für uns bedeutet das neben dem langjährigen Engagement in der Forschungsgemeinschaft Funk (FGF) insbesondere die finanzielle Förderung der Forschungsaktivitäten der Bundesregierung im Rahmen des Deutschen Mobilfunk Forschungsprogramms und des Umweltforschungsplans. Aktuell ist dazu noch die Gründung des Wissenschaftsforums EMF hinzugekommen – einer wichtigen Forschungsplattform, die die Lücke, die nach der Auflösung der FGF entstanden ist, schließt. Wir haben diese Neugründung angestoßen und unterstützen dieses Wissenschaftsforum finanziell.”, S.117. Anm: Dieser Text ist online im GF-Bericht 2011 nicht mehr vorhanden, er wurde umgeschrieben. Hier >>> ist das Original über Google-Suche abrufbar.

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